Ordnung, Symmetrie und Bestimmtheit
Proklos Diadochos (412–485 n. Chr.), Haupt der neuplatonischen Schule in Athen, erläutert in seinem Euklid-Kommentar die Schönheit der Mathematik, deren Vorzüge – „Ordnung, Symmetrie und Bestimmtheit“ – auch allen anderen Künsten und Wissenschaften „vollkommene Ordnung und den Charakter eines sinnerfüllten Ganzen verleiht“. Ordnung bezieht sich hier auf klare geometrische und arithmetische Verhältnisse (logoi), nach denen Strecken, Flächen, Körper und insbesondere auch Zahlen organisiert sind. Symmetrie liefert dafür das Prinzip, nämlich die Kommensurabilität, was bedeutet, dass Schönheit nur entstehen kann, wenn mit Hilfe der Mathematik Unbestimmtheit und Unbegrenztheit vermieden wird. Konkret heisst dies, dass es für sie alle ein gemeinsames Maß geben muss, als deren ganzzahliges Vielfaches sie dargestellt werden können. Proklos bezieht sich hier auch auf Platons Dialog Timaios (53b), in dem der weltschöpfende Gott (demiurgos) das Chaos der Welt unter dem Hinweis auf die Methoden der Mathematik mit Formen und Zahlen neu gestaltet und ihr damit zur Schönheit verhilft.
Mathematische Schönheit in Kunst und Architektur
Diese Vorstellung von Ordnung und Symmetrie als Garanten für Schönheit ist im griechischen Denken tief verwurzelt und taucht vor allem auf dem Feld der Kunst bereits in vorplatonischer Zeit auf. Im 5. Jh. v. Chr. entwickelt der Bildhauer Polyklet von Argos anhand eines Standbildes seinen Kanon, an dem er den idealen männlichen Körper auf der Grundlage symmetrischer (kommensurabler) Zahlenverhältnisse exemplifiziert. In Untersuchungen griechischer Ringhallentempel konnte überzeugend dargelegt werden, dass man ungefähr ab der Mitte des 6. Jhs. v. Chr. verstärkt versuchte, die komplizierten Maße der größtenteils monumentalen Bauten in einfachen ganzzahligen Verhältnissen darzustellen bzw. auf seriellen Grund- und Einheitsmaßen wie Säulendurchmessern, Jochen etc. aufzubauen. Aus dem Werk „Zehn Bücher über Architektur“, das der römische Architekt Vitruv im 1. Jh. v. Chr. verfasste, erfahren wir, dass „die Formgebung der […] Tempel auf Symmetrie [beruht], an deren Gesetze sich die Architekten peinlichst genau halten müssen.“ Ohne Symmetrie und Proportion (analogia) könne kein Tempel „eine vernünftige Formgebung haben, wenn seine Glieder nicht in einem bestimmten Verhältnis zu einander stehen […]“. Unter Verwendung arithmetischer Theorien entwickelt Vitruv aus den Gliedern und der Gesamterscheinung des menschlichen Körpers schließlich eine Symmetrie, die auf einem festgelegten Grundmaß (modulus) fußt und ihm als Grundlage für das architektonische System von Tempeln dient.
Alexandria, Konstantinopel und die Kleine Hagia Sophia
Diese Methode mathematisch fundierter Schönheit in Kunst und Wissenschaft wurde mit dem Neuplatonismus bis in die Spätantike weitergetragen und gelehrt. Einer der einflussreichsten Tradenten dieser Philosophie war der eingangs erwähnte Proklos, der diese Philosophie gerade auch in ihrer Verschränkung mit Mathematik als Wahrheits- und damit zugleich als Schönheitspraktik systematisierte und in einem umfangreichen Werk hinterließ. Wir wissen, dass seine Lehre über einen Schüler, Ammonios Hermeiou, an die Universität in Alexandria (mouseion) gelangte und dort von ihm auch unterrichtet wurde. Einer seiner Studenten war der Mathematiker und neuplatonische Philosoph Eutokios von Askalon, der seinerseits dieses Wissen als Lehrer am mouseion weitergab. Eutokios wiederum stand nachweislich in fachlichem Austausch mit den beiden Ingenieuren (mechanikoi), die die Hagia Sophia im Auftrag Kaiser Justinians in Konstantinopel geplant und realisiert hatten: Anthemios von Tralleis und Isidor von Milet. Die Universität von Alexandria war aber auch bekannt als Zentrum der Ingenieurwissenschaften, das von Heron, einem Ingenieur und bekannten Mathematiker wahrscheinlich im 1. Jh. n. Chr. gegründet worden war und bis in die Spätantike existierte. Vermutlich hatten Anthemios und Isidor dort studiert und neben ihrem technischen Studium und der Mathematik auch jene neuplatonischen Lehren gehört, die „Ordnung, Symmetrie und Bestimmtheit“ als Voraussetzung für Schönheit und damit auch für schöne Architektur propagierten.
Im Plan der Hagia Sophia lässt sich ein Reflex dieser Lehren deutlich nachweisen, denn die komplexe Struktur der großen Kirche folgt konsequent einem Algorithmus, der als „Seiten- und Diagonalzahlreihe“ für die Arithmetik in der neuplatonischen Philosophie eine große Rolle spielt und von Proklos ausführlich erläutert wurde. (s. Die Hagia Sophia Justinians – Bühne des Kaisers und mathematischer Raum) Ob Anthemios und Isidor bereits an Planung und Bau der Sergios- und Bakchoskirche (Kleine Hagia Sophia) beteiligt waren, ist nicht bekannt. Doch zeigt das geometrische Konzept auch dieses Baus, dass man versuchte, das architektonische und konstruktive Gefüge ganzheitlich aus der Systematik einer regelmäßigen Figur – hier dem Achteck bzw. Oktagramm – abzuleiten und alle möglichen Teilstrecken für die Dimensionierung der Hauptmaße und komplizierten Details nutzbar zu machen. Als Grundmodul dient hierbei die Achteckseite, die geteilt, geviertelt aber auch in voller Strecke die Grundstruktur des Bauwerks festlegt. Ein verzweigtes System von Ableitungen dieser Strecken und Maße formt dann die immer komplizierter werdenden Einzelelemente bis hin zu dem außergewöhnlichen Kuppelgewölbe. Auf diese Weise gelang es den Planern – bis auf die Verwendung weniger Hilfsmaße – ein kohärentes geometrisches System zu entwickeln, das die Morphologie der wichtigsten Teile des Baus, den oktogonalen Kern wie auch die Ostseite mit der Apsis bestimmt und dem Bau durch diese „Schönheit der Mathematik“ im Sinne Proklos’ den „Charakter eines sinnerfüllten Ganzen“ verleiht.