Kaum ein digitales Netzmedium hat mehr Auswirkungen auf die Praxis des historischen Lernens als die Online-Enzyklopädie Wikipedia. Neben der Erledigung schulischer Aufgaben für das Unterrichtsfach Geschichte im privaten, außerschulischen Umfeld, wird die Recherche und die Fortschreibung (eigener) Artikel auch innerhalb des institutionellen Rahmens des Schulunterrichts immer bedeutender.
Der lange Zeit bestehende „schlechte Ruf“ der Wikipedia hat sich mittlerweile in eine allgemeine Anerkennung der didaktischen Möglichkeiten und des qualitativen Werts der Informationen gewandelt. Aus der Informationsbörse für Präsentationen und Referate wurde in der schulischen Anwendung mittlerweile eine respektable Lernumgebung, die sinnvolles geschichtsbezogenes Lernen ermöglicht und dem Erwerb und der Erweiterung vieler domänenspezifischer Kompetenzen dient.
Die Tagung strebt eine Bestandsaufnahme des gegenwärtigen historischen Lernens mit der Wikipedia an: Im ersten Panel der Tagung stellen nach der Begrüßung Dr. Jan Hodel und Prof. Dr. Marko Demantowsky, beide von der Pädagogischen Hochschule FHNW in Basel, Probleme und Chancen der Wikipedia im Geschichtsunterricht gegenüber. Nando Stöcklin von der Pädagogischen Hochschule Bern kommentiert die Präsentation und öffnet anschließend die Diskussion fürs Publikum.
Reaktionen auf den Beitrag
Kommentar
für Ihr Interesse an unserer Tagung und den Kommentar danke ich Ihnen. Er gibt mir Anlass, noch einmal an die wichtigsten Erkenntnisse anzuknüpfen, die wir aus diesen zwei intensiven Tagen der Beschäftigung mit der Wikipedia – insbesondere im Hinblick auf das geschichtsbezogene Lernen –, gewinnen konnten.
Es ist schade, dass Sie keine Gelegenheit hatten, teilzunehmen. Glücklicherweise werden alle im Live-Stream gesendeten Beiträge (auch mit der anschließenden Diskussion) hier nach und nach eingestellt, sodass Sie auch im Nachhinein noch einen Einblick in die keinesfalls durch universitäre Dünkel geprägten Einlassungen nehmen können.
Mit der Wikipedia als „Lehrmittel“ ist nicht etwa gemeint, dass wir es hier mit einem umfassenden Schulbuch zu tun haben. Es fehlen doch richtigerweise eine didaktische Konzeption, die zwischen Artikeln verbindend vermittelt sowie Aufgabenstellungen, die sinnvolles Lernen ermöglichen. Zu Recht wies Jan Hodel in seinem skeptischen Statement darauf hin, dass der Wikipedia-Eintrag zum Ersten Weltkrieg in Normseiten gerechnet den Umfang eines Buches mittlerer Stärke umfasst. Wie sollte man auf Grundlage dieses Eintrags unangeleitet lernen? Hat überhaupt in letzter Zeit jemand diesen Beitrag sprichwörtlich von A bis Z, konkret von der Überschrift bis zur letzten Fußnote gelesen? Der Mehrwert der Wikipedia liegt also irgendwo dazwischen – im Detail. Im empirischen Teil haben Patrick Sahle und Ulrike Henny (Köln) demonstriert, wie sich aus den Daten einer in der Wikipedia integrierten Tabelle eine anschauliche Visualisierung eines historischen Ereignisses (hier die U-Boot-Indienstnahme während des Zweiten Weltkrieges) herstellen lässt, ich selbst habe die Relevanz von Ereignisdaten in der Abrufstatistik der Wikipedia nachgewiesen. Beides sind zugegeben keine lehrmittelhaften Anwendungen, doch eröffnet sich genau hier das Spektrum der geschichtskulturellen Wikipedia-Nutzung im Schulunterricht.
Konkreter wurden dann die Beiträge zur Wikipedia-Anwendung mit Lehramtsstudierenden: Christoph Pallaske (Köln) ließ Studierende Clips zur Historie von Artikeln anfertigen, Ulf Kerber (Karlsruhe) betreut schon seit Jahren ein wachsendes Wiki mit studentischen Artikeln zur Geschichtsdidaktik. Auch die Wikipedia-Anwendung in Schulen wurde präsentiert: David Stöckli (Basel) und Daniel Bernsen (Koblenz) ließen in ihren Wikipedia-Projekten Schüler enzyklopädisch schreiben und näherten sich so der Frage, was die Wikipedia in unserer Wissensgesellschaft eigentlich ausmacht. Immer wieder kam die Diskussion zu dem Punkt, dass ein gesellschaftlicher Wandel auch veränderte Wissensaneignungs- und –verarbeitungsprozesse mit sich brachte, der den Schulunterricht vor neue Herausforderungen stellt. Lehrende müssen ihren Schülerinnen und Schülern nicht zeigen, dass es die Wikipedia gibt und wo man sie findet. Gegenstand der schulischen Wikipedia-Lehre sollte vielmehr sein, zu einem bewussten Umgang mit und in der Wikipedia zu befähigen und ermutigen. Dies fängt bereits mit dem Lesen eines Artikels an: Man liest Wikipedia-Einträge (vor allem umfangreiche s.o.) nämlich nicht vom Anfang bis zum Ende, sondern kursorisch nach dem Blick auf den Advanced Organizer, der Gliederung des Artikels. Das Augenmerk liegt nicht ausschließlich auf dem Content, sondern auch auf dem Backend eines Artikels (auf seiner Diskussionsseite und Statistik).
Ich kann also an dieser Stelle Entwarnung geben: Die Universitäten und Hochschulen haben ihre allfälligen „Dünkel“ zur Reputation der Wikipedia längst überwunden und ihr Potenzial als Lernumgebung erkannt. Dass dies keinesfalls nur auf gymnasialem Niveau geschieht, haben Wortbeiträge aus dem Forum wie auch aus der parallelen Twitter-Diskussion (#gld15) sogleich gezeigt. Eine Wikipedia-Nutzung in diesem Sinne eignet sich auf für das Lernen in Hauptschulen und im Rahmen von inklusivem Lernen – in allen Niveau- und Altersstufen.
Kommentar