Am 14. Mai dieses Jahres stand in der TAZ zu lesen: eine "spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar.“ Stattdessen gäbe es nur eine "kulturelle Vielfalt", nicht irgendwie Einheitliches oder Übergreifendes, das als Leitkultur im Umgang mit dieser Vielfalt ins Spiel gebracht werden könnte. Man könnte mit einem Achselzucken über diese steile These hinweggehen, käme sie nicht von der im Range einer Ministerin stehenden Integrationsbeauftragten des Bundes, dem Mitglied der SPD Aydan Özoguz.
Wie soll man sich dazu verhalten? Ich werde in meiner Identität als Deutscher – und der bin ich nun mal - als kulturlos abgestempelt. Das provoziert mich natürlich, und das erst recht, weil ich ein halbes Jahrhundert lang als Hochschullehrer im Bereich der Geschichte mir große Mühe gegeben habe, mit meinen Studierenden an einem differenzierten und zukunftsfähigen Verhältnis zu unserer historischen Identität zu arbeiten.
Ich sehe in der Äußerung der Ministerin ein Symptom dafür, dass es um das Selbstverständnis der Bundesrepublik, um ihre historische Identität, schlecht bestellt ist. Dafür steht auch die Tatsache, dass es keine bemerkenswerte öffentliche Debatte über die These dieser Kulturlosigkeit der Deutschen gegeben hat, die mit den Kontroversen um das kulturelle Selbstverständnis Deutschlands und um seinen Ort in der Geschichte vergleichbar wäre. Ich denke beispielsweise an die Fischer-Kontroverse, den Historikerstreit, den Streit zwischen Ignatz Bubis und Martin Walser und die Auseinandersetzungen um das Holocaust-Denkmal in Berlin. Warum entzündet sich an Özoguz Behauptung kein neuer Streit? Wo bleiben die Stellungnahmen seitens derjenigen, die sich für die deutsche Kultur einsetzen, ja für diese Kultur in ihrer Lebendigkeit und Zukunftsfähigkeit einstehen? Gibt es wirklich keine deutsche Kultur mehr, die die Vielfalt unterschiedlicher kultureller Orientierungen in unserem Lande umgreift, ihr zugrundeliegt und uns als Deutsche von anderen Nationen, den Engländern, Franzosen, Italienern, Russen, Amerikanern und vielen anderen, unterscheidet? Diese Unterschiedlichkeit lässt sich wohl schlecht bestreiten. Sie muss auf den Begriff 'Kultur' gebracht werden, wenn man sie verstehen und sich in ihr zurechtfinden will.
Was ist Kultur? Damit ist zunächst einmal das Gegenteil von Natur bezeichnet, also die geistige Hervorbringung des Menschen, alles das, was die Menschen selber schaffen. Dieser Kulturbegriff trifft aber die Sache nicht, um die es hier geht. In einem engeren Sinne ist Kultur eine menschliche Lebensform neben anderen (Wirtschaft, Politik, Gesellschaft u.a.) Hier ist sie eine sprachlich vermittelte Verständigung des Menschen über sich selbst, über sein Verhältnis zu anderen Menschen und zur Natur und allen Umständen seines Lebens. Diese Kultur ist dadurch definiert, dass sie dem menschlichen Leben in allen seinen Formen Sinn gibt. Dieser Sinn schlägt sich in objektiver Gestaltung nieder, z.B. in einer bestimmten Ausprägung des Geschlechterverhältnisses, im Verständnis von Geschichte, in Kunst, Wissenschaft und Religion etc.
Diese Ausprägung hat unterschiedliche Reichweiten und Tiefen: personale, kommunale, regionale, nationale, transnational-zivilisatorische und allgemein-menschliche. Quer dazu liegen andere Dimensionen der sinnhaften menschlichen Lebensgestaltung, die geschlechtliche, die generationelle u.a. Diese Reichweiten oder Dimensionen überschneiden sich, und sie sind in ständigem Wandel begriffen. Kann es sein, dass dabei die Dimension verschwindet, um die es in der Integration geht, mit der Frau Özoguz befasst ist? Sie behauptet, die Deutschen hätten in der nationalen Reichweite und Ausprägung von Kultur nur das Alleinstellungsmerkmal der Sprache und sonst nur Vielfalt, also Unterschiedliches und nichts gemeinsam sinnhaft (kulturell) Verbindliches aufzuweisen. Stimmt das?
Immerhin erwähnt sie, wie üblich, wenn es um Integration geht, das Grundgesetz. Das steht nun da wie der Fels in der Brandung. Dass es nur Teil einer politischen Kultur ist, die die Bundesrepublik als Staat prägt, kommt ihr nicht in den Sinn. Das Grundgesetz lebt von kulturellen Voraussetzungen, die es selber gar nicht setzen kann. Wenn man diese Voraussetzungen ignoriert, also nicht in den Tiefen der menschlichen Subjektivität in ihrer sozialen Verfassung und der generationsübergreifenden Erfahrung und Befindlichkeit verankert, bleibt Integration eine äußerliche Angelegenheit. Innerlich bleiben die Betreffenden ihrer deutschen Nachbarschaft fremd und fern.
Eng verwandt mit der politischen ist die Geschichtskultur. Gibt es hier nur Vielfalt und Divergenz? In der Tat gehört der öffentliche Streit um die historische Verortung der Bundesrepublik zu ihren hervorstechenden kulturellen Merkmalen. Das aber heißt nicht, dass in allem Streit keine Grundzüge einer Geschichtskultur sichtbar werden, die als solche nicht strittig sind. Die Integration des Holocaust in das historische Selbstbild der Deutschen zum Beispiel ist eine Leistung, die international Beachtung und Anerkennung gefunden hat. Hier liegt sicher ein schweres Hindernis für die Integration der türkisch-stämmigen Einwanderer, die etwas Vergleichbares mit ihrem Völkermord an den Armeniern nicht schaffen. Kann man dieses geschichtskulturelle Alleinstellungsmerkmal in der Divergenz historischer Multiperspektivität verschwinden lassen? Bisher ist das nicht gelungen, und es wird auch nicht durch die Auflösung der deutschen Kultur durch Integrationsbeauftragte nicht gelingen.
Um bei der Geschichtskultur zu bleiben: Gibt es keine gemeinschaftsbildenden Traditionen in Deutschland? Natürlich gibt es sie, nicht nur die negative der Ablehnung des Nationalsozialismus. Ein Beispiel: An der Gestalt Martin Luthers kristallisiert sich gegenwärtig ein ambivalentes, aber nichtsdestoweniger wirksames Traditionsverständnis im Umgang mit einer Persönlichkeit, die unbestreitbar zur kulturellen Tradition Deutschlands gehört. Es gibt zahlreiche weitere Beispiele, mehr oder weniger ambivalente, aber unbestreitbar aufgenommen ins deutsche kulturelle Gedächtnis.
Ähnlich wie in der Geschichtskultur gibt es traditionsbildende zukunftsträchtige Größen in allen Bereichen der kulturellen Sinnbildung. Ich erwähne hinsichtlich der Wirtschaftskultur die soziale Komponente des Kapitalismus ('rheinischer Kapitalismus'). Sie mag schwach sein, aber wirksam und konsensfähig ist sie doch. In der Wissenschaftskultur verdienen die Ideen von Humboldt und Schleiermacher über die Bildungsfunktion der wissenschaftlichen Erkenntnis mehr als nur gewohnheitsmäßige Anerkennung. Ihre Zukunftsträchtigkeit stellen entsprechende Anstrengungen nicht weniger deutscher Hochschulen unter Beweis.
Die Reihe der Beispiele wirksam gebliebener Traditionen ließe sich fortsetzen: Kant, der deutsche Idealismus und die Hermeneutik in den Geisteswissenschaften, die eigentümliche Verschränkung von Säkularismus und öffentlicher Anerkennung der christlichen Kirchen; die Absage an reine Machtpolitik als Folge der Erfahrung zweier Weltkriege; die Europäisierung des Nationalen; Humanismus als Beitrag zur interkulturellen Kommunikation; Selbstkritik als Medium der Verständigung über kulturelle Differenzen und vieles andere mehr.
Frau Özoguz wäre wohl beraten, wenn sie sich mit der deutschen Kultur vertrauter machte, als nur ihre Vielfältigkeit wahrzunehmen. Es zeichnen sich durchaus Züge der Gemeinsamkeit in der Vielfalt ab. Man muss sie nur wahrnehmen wollen. Aber genau das soll ja offensichtlich nicht sein; denn dann käme man in die Nähe einer Vorstellung von 'Leitkultur', und die wirkt bei der Ministerin für Integration (und leider nicht nur bei ihr) wie das Weihwasser auf den Teufel.
Was heißt eigentlich 'Leitkultur'? Doch etwas ganz Einfaches: Es handelt sich um den Inbegriff der Regeln und mentalen Einstellungen, die Vielfalt und Pluralismus als Eigenschaft moderner Kultur friedlich lebbar machen. Wenn Vielfalt das letzte Wort wäre, was steht dann dafür, dass sich die in ihr notwendigerweise wirksam werdenden Divergenzen nicht gewalttätig austragen? Vielfalt braucht Regeln des Umgangs mit Divergenz und eine Kultur, die diese Regeln mental begründet und stärkt. Juristische Normen und das Gewaltmonopol des Staates sind dazu zwingend erforderlich. Aber sie reichen nicht: Es müssen zivilgesellschaftliche Lebensformen hinzukommen, wenn Vielfalt ein Gewinn an Menschlichkeit und kein Schreckgespenst einer verlorenen Kultur sein soll.
Warum setzt sich die Ministerin für Integration über die Evidenz einer spezifisch deutschen Kultur hinweg? Das lässt sich leicht erklären: Wenn es diese Evidenz nicht gibt, dann fällt ein wesentlicher Faktor der Integration weg, eben die Bezugsgröße 'deutsch'. Die neuen Bürgerinnen und Bürger brauchen sich nicht an die Kultur anzupassen, die die Deutschen als ihre eigene ansehen und leben. Sie brauchen sich dann nur eine begrenzte Anzahl von Regeln zu eigen zu machen. Die Kultur, die sie mitbringen und die ihr Leben diesseits und jenseits der Regeln bestimmen, bleibt dann unangetastet. Im Gegenteil: diese andere Kultur vermehrt nur die Vielfalt, die sie in Deutschland schon vorfinden. Die Divergenzen und Spannungen, die die mitgebrachte Kultur von derjenigen der Mehrheitsgesellschaft trennt, geraten außer Acht, und das gilt vor allem für das Konfliktpotenzial, das hier lauert (und dessen Gefährlichkeit inzwischen evident ist).
Wer kann im Ernst bestreiten, dass es dieses Konfliktpotenzial gibt? Wenn es von der hohen Warte der zuständigen Bundesministerin vollmundig ignoriert wird, macht sie sich für die Probleme, für den Unfrieden, die aus diesem Potenzial erwachsen, mitschuldig. Sie sollte stattdessen die Elemente und Faktoren der deutschen Kultur ins Spiel bringen, die eine Anerkennung kultureller Vielfalt auf der Basis einer Anthropologie der menschlichen Würde als wesentlich erachten. Dazu gehört zum Beispiel der Humanismus klassisch-moderner Ausbildung (Herder, Humboldt). Frau Özoguz sollte zusätzlich die mit dieser Tradition ebenfalls gegebenen Gesichtspunkte der Kritik hervorheben und stärken, die jede Einschränkung dieser Würde (und sei es auch mit höchster religiöser Autorität) betrifft.
Aber solche umfassenden Kriterien und Gesichtspunkte kultureller Orientierung sollen ja "schlicht nicht identifizierbar" sein, wenn sie die Deutschen als Deutsche betreffen. Wirklich nicht? Frau Özoguz sollte es besser wissen, wenn sie sich selbst für integriert hält, woran ich nicht zweifeln möchte.
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In Deutschland haben wir eine wesentlich ältere Geschichte. Neben den germanisch-römischen Konflikt wirkte immer mehr das Christentum prägend. Es ist das Land der Reformation, die sich in politischen Wirren und schmerzhaften Kriegen zu einer Koexistenz unterschiedlicher Ansichten durchgerungen hat. Es ist auch das Land der Aufklärung, zusammen mit Frankreich und England ihr ganz eigenes Gepräge für ein Wandel des Denkens steht. Der Kulturkampf steht für die Spannung zwischen Lutheranern und Reformierten. Die jüngsten demographischen Veränderungen der letzten 50 Jahre sind bekannt. Was aber ist zu bewahren und weiterzuentwickeln? Was darf unbeschadet auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt werden?
Wer nun dieses kulturelle Vermächtnis nicht wahrnehmen will, dem darf - solange sie oder er Deutscher ist - zu Recht kein historisches Bewusstsein attestiert werden. Und wer kein Deutscher ist, darf sich selbst so weit lächerlich machen wie sie oder er will, aber die Relevanz mag man hier nicht sehen.
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Inwieweit zur deutschen Erinnerungskultur auch die Tendenz der Selbstzerstörung gehört, ist eine brisante Thematik. Immerhin hat schon Goethe vom „unnützen Erinnern“ gesprochen, das den Vereinigten Staaten von Amerika erspart bleibe (Simmel, ebd., S.190). Hier hilft die Unterscheidung von Erinnerung und Gedächtnis weiter, die verhindert, dass das Emotionale den Blick trübt. Erinnern bezieht sich auf Situationen, die man selbst erlebt hat, Gedächtnis dagegen auf Inhalte, die über lange Zeiträume hinweg das Selbstbild von Nationen prägen. Insofern hat Martin Landvoigt recht: „Kulturelle Zugehörigkeit ist somit wesentlich eine Frage des Selbstverständnisses“.
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AK: '... aber all' diese "Kultur" hat die NS-Verbrechen auch nicht verhindert. Das ist ein Beispiel für eine selektive Variante des emphatischen Kulturverständnisses (von dem Frau Strachan in ihrem Kommentar meinte, dass "wir" das ja nicht täten - also doch?), das nämlich bestimmte "Leistungen" für die "eigene" Gruppe reklamiert'
Eine Fixierung auf einen völlig untauglichen Kulturbegriff, der dann wie ein Strohmann abgefackelt wird, hat für mich nichts konstruktives. Wenn denn zugegebener Maßen der Kulturbegriff schwer fassbar ist, ist es nur allzu billig, sich an deren Dekonstruktion zu beteiligen. Als ob es eine Nebensächlichkeit wäre und nicht Herzensangelegenheit vieler. Und letztlich haben auch die Kritiker der Kultur eine ambivalente Spannung, dann auch sie leben von den Voraussetzungen, die sie selbst zu verachten scheinen.
'Mit welcher Überzeugung aber reklamiert man diese Leistungen anderer für die "eigene" Gruppe? Herr Gunst hat ja ebenso wenig zu ihnen beigetragen und Frau Özoguz als in Deutschland Geborene.'
All das geht am Thema vorbei. Es geht bei Kultur keineswegs um persönlich Leistung. Warum diese dann her beonen? Es geht um die Assoziation zu einem gemeinsamen Verständnis, das substanzielle Wirksamkeit auch in einem dynamischen Kontext bejaht.
Kulturelle Zugehörigkeit ist somit wesentlich eine Frage des Selbstverständnisses. Wenn Frau Özoguz diese als nicht substanziell ablehnt, exkludiert sie sich selber aus einer Kultur, die für andere sinnstiftend und wesentlich angesehen wird.
AK: '"Deutsche Kultur" (mit großem D) ist als ein (ohne solches immer neues Zutun) gehabter Ausweis von Zugehörigkeit und damit verbundener Berechtigung (auch zum Reden über "D/deutsche Kultur" schlicht ungeeignet - sie kann nur exkludierend wirken.'
Ungeeignet ist lediglich das Verständnis, dass eine identität durch eigene Leistung erworben werden muss. Exkludierend wirkt sie vor allem bei jenen, die diese Kultur ablehnen oder sie als nicht-existent deklarieren.
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Offenkundig ist die Position der Integrationsbeauftragten der deutschen Bundesregierung ideologisch aufgeladen. Sie bewegt sich im Mainstream der Enttradionalisierung moderner Lebensformen in der Risikogesellschaft, wie sie Ulrich Beck 1985 beschrieben hat. Die gelobte „kulturelle Vielfalt“, die angeblich grenzenlose Freiheit garantiert, läuft Gefahr, zu Beliebigkeit und Wertrelativismus zu verkommen, mit dem nur die „flexiblen Menschen“ leben können, die von der Wohlstandsgesellschaft versorgt werden. So kann sich die SPD-Frau Özoguz glücklich schätzen, in Deutschland Karriere zu machen. Demgegenüber ist der Protest des Historikers Jörn Rüsen gut nachvollziehbar. Er erinnert mit Recht an die Quellen kultureller Identitäten, insbesondere an die gemeinsame Geschichte und die gemeinsame Religion eines Volkes. Diese Realfaktoren sind durch multikulturelle Projektionen nicht zu ersetzen. Soweit zum Pro und Kontra, das gewissermaßen den Kampf der Kulturen wiederspiegelt. Gleichwohl handelt es sich hier nicht um eine klare Alternative. Der Begriff der Kultur ist vieldeutig und ambivalent, so dass es durchaus Überschneidungen beider Seiten gibt. Denn beide Kontrahenten sind Menschen, die sich um Sachlichkeit bemühen, aber ihre Emotionen nicht ganz unterdrücken können.
Vor diesem Hintergrund ist der Vorschlag von Andreas Körber, zwischen analytischer und emphatischer Verwendung des Begriffs „Kultur“ zu unterscheiden, bedenkenswert. Ethnologen haben den analytischen Kulturbegriff praktiziert, so etwa Ruth Benedict in dem Klassiker Patterns of Culture. Doch es ist unübersehbar, dass die dichten Beschreibungen des Unvertrauten von der subjektiven Erfahrung und Einstellung der Ethnographin geprägt sind. Insofern lässt sich das Analytische nie scharf vom Empathischen trennen, auch wenn das den Beteiligten nicht bewusst wird. Wo es um Stellungnahmen zur Kultur geht, ist immer viel falsches Bewusstsein im Spiel.
Schon vor gut einem Jahrhundert hat Georg Simmel den Begriff der Kultur entsubstantialisiert, wenn man so sagen darf. Für Simmel ist Kultur Ausdruck innerer Spannungen in Gemeinschaften, die sich unter verschiedenen Bedingungen zusammenfinden. Folglich spricht Simmel von „Unbestimmtheit der gegenwärtigen Kultur“, von „Tragödie der Kultur“ und vom „Konflikt der modernen Kultur“. Ich habe Simmels Kulturphilosophie in meinem Aufsatz Das Ende der Kultur. Wie Georg Simmel den Begriff der Kultur soziologisch dekonstruiert detailliert dargestellt (ZKph 9, 2015, 19-94). Simmels Überlegungen laufen darauf hinaus, dass Kultur aus der Wechselwirkung von Nähe und Distanz, vom Fremden und Vertrauten ihre Energie bezieht. Die Polaritäten des kulturellen Lebens sind in der nicht festgestellten Natur des Menschen angelegt, in seiner „exzentrischen Positionalität“.
Sigmund Freud hat 1930 in seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur Eros als Quelle der Gemeinschaft dargestellt, zugleich aber hervorgehoben, dass die „Schicksalsfrage der Menschenart“ davon abhängt, ob es der Kultur gelingt, Liebe und Aggression, Eros und Thanatos zum Ausgleich zu bringen. Damit wendet sich Freud gegen den illusionären Rousseauismus der Gut-Menschen-Ideologie, die er sozialpolitisch für gefährlich hält, da sie die harten Realitäten nicht anerkennt. Denn ohne Realitätsprinzip sind Kulturgemeinschaften zum Untergang verurteilt. Sicherlich geht es heute nicht mehr um den Untergang des Abendlandes, wie ihn Oswald Spengler sich vorgestellt hat. Seine organizistische Kulturanthropologie war zeitbedingt, aber seine Einstufung der Kultur als „Urphänomen der Weltgeschichte“ ist so abwegig nicht, wie manche heute glauben machen wollen. Spenglers Untergangsmetapher hat noch eine gewisse Aktualität angesichts des zynischen Idealismus westlicher Demokratien, die kriegerische Auseinandersetzungen in ferne Länder outsourcen.
Gegen die derzeitige Dekonstruktion des Kulturbegriffs, die multikulturelle Gesellschaften in Agglomerationen von bindungslosen Elementarteilchen auflöst, ist auf medialer Ebene kein Kraut gewachsen. „Go with the flow“ muss von alleine auslaufen, auch wenn es noch so lange dauert. Statt sich daran zu zerreiben, halte ich es als Philosoph der Lebenskunst für sinnvoll, sich auf eine andere Ebene der Reflexion zu begeben, auf die Ebene der Anthropologie. Hier findet sich eine der Konstanten der menschlichen Natur, nämlich das Verlangen, irgendwo seine Wurzeln zu haben, „being rooted somewhere“, wie Erich Fromm in Escape From Freedom prägnant formuliert hat. Das Verlangen nach Wurzeln erzeugt die unauflösbare Dialektik im Prozess der Kultur, nämlich die Spannung zwischen Bindung und Freiheit. Diese ist übrigens elementar in der Zweierbeziehung wirksam. Das Individuum ist kein „Element der Welt“, wie ein Philosoph einmal meinte, sondern Resultat der Bindung an und der Auseinandersetzung mit einem geliebten Partner. Im Spiel mit wechselnden Identitäten kann man zwar Bestseller schreiben, aber das sind Moden, die so schnell vergehen, wie sie kommen. Schon vor fast hundert Jahren wollte Harry Haller im Steppenwolf „den Wahn der Persönlichkeitseinheit durchbrechen und sich als mehrteilig, als ein Bündel aus vielen Ichs empfinden“. Das Resultat ist und bleibt existentielle Einsamkeit, die trotz offizieller Partizipations-Euphorie nicht zu vermeiden ist.
Das gleiche gilt für Kulturgemeinschaften, die aus der Sicht der Entwurzelten keine nationale Einheit bilden. Diese Auffassung ist für die moderne Lebenswelt eine schwere Hypothek und für die Kulturschaffenden eine große Herausforderung. Ohne die Paradoxie von Nähe bei gleichzeitiger Distanz würde eine Kultur an Lebensschwungkraft verlieren und in einen Zustand der Entropie verfallen, den schon Auguste Comte als „positiven Zustand“ beschrieben hat, in dem es zwar Bewegungen, aber keinen wesentlichen Fortschritt mehr gibt. So sieht es mit dem derzeitigen Verständnis von Kultur aus, das infolge der Globalisierung alle Unterschiede einebnet: „Posthistoire“ lässt grüßen. Aber man darf Global Village nicht vergessen - den heimatlichen Ort, an dem wir nach der Reise um die Welt uns wieder einigermaßen zuhause fühlen.
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Mit welcher Überzeugung aber reklamiert man diese Leistungen anderer für die "eigene" Gruppe? Herr Gunst hat ja ebenso wenig zu ihnen beigetragen und Frau Özoguz als in Deutschland Geborene. Somit muss er sich diese ebenso kulturell angeeignet haben wie jene -- und wie es allen anderen (auch Einwanderern, aber auch Menschen in anderen Ländern) ebenso möglich ist.
Aus diesem Kulturverständnis, das eine vorgängige Gemeinschaft postuliert und eine spezifische Kultur für diese reklamiert, ist keine humanistische Orientierung zu gewinnen.
Nein, "deutsche Kultur" (mit kleinem D; vgl. meinen eigenen Beitrag) ergibt sich immer wieder und immer neu aus dem, wie wir mit uns selbst, miteinander, mit allen anderen Menschen, mit den gemeinsamen und getrennten Erfahrungen der Vergangenheit sowie mit unseren Erwartungen und Hoffnungen für die Zukunft und mit denen aller anderen Menschen umgehen.
"Deutsche Kultur" (mit großem D) ist als ein (ohne solches immer neues Zutun) gehabter Ausweis von Zugehörigkeit und damit verbundener Berechtigung (auch zum Reden über "D/deutsche Kultur" schlicht ungeeignet - sie kann nur exkludierend wirken.
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Die Lutherbibel, Bachs Matthäuspassion und seine sog. Orgelmesse, Haydns Schöpfung, Goethes Faust u.a., Schillers Dramen, Mozarts Zauberflöte, Schuberts Lieder, Beethovens Fidelio und 9. Symphonie, die romantische Literatur (z.B. Storm hat 200. Geburtstag, usw.), Wagners Parsifal usw. usw.. Auch die Verbrechen der Nazizeit konnten solche Kulturdenkmale nicht extirpieren. Natürlich muss Kultur gepflegt werden! Der Koran verbietet allerdings Musik und Kunst .......... Wie will diese Frau integrieren?
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Ist doch etwas, was mir geholfen hat, meine Scheu, hier im Ausland meine Nationalität zuzugeben, zu überwinden.
Wir Deutschen könnten ja auch einfach stolz auf unsere Philosophen, Musiker, unsere Landschaft und die Brüder Grimm sein und die "jüngste Vergangenheit" schlichtweg versuchen, ins Vergessenheit geraten zu lassen. Tun wir aber nicht. Vergleichen wir das mal mit, sagen wir, dem Britischen Stolz, der sich von Gräueltaten der Vergangenheit nicht eindämmen lässt, ... Also wenn das kein unterschiedliches Kulturverständnis ist, dann habe ich die Definition missverstanden.
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Ich denke, man sollte zwischen mehreren Konzepten und auch Gebrauchsweisen von "Kultur" unterscheiden und jeweils prüfen, inwiefern das eigene Verständnis mit dem der anderen übereinstimmt -- das gilt für Aydan Özoguz ebenso wie für Jörn Rüsen, und auch für diejenigen, die wiederum auf einen Beitrag reagieren -- mich eingeschlossen.
Ein geschlossener, hermetischer Kulturbegriff, der Individuen nur als Angehörige einer einzigen Kultur begreifen kann und diese als ins sich homogen, sollte spätestens mit dem Kulturkonzept von (u.a.) Klaus-Peter Hansen und Stefanie Rathje überwunden sein wie auch nach der Einsicht von Wolfgang Welsch (1999) in seinem Trans-Kultur-Konzept.
Kultur(en) sind somit immer in einem (gewissermaßen inneren wie äußeren) Plural zu denken: Jede(r) von uns hat mit jeweils unterschiedlichen anderen Menschen Gemeinsamkeiten kultureller Art, die sich Sozialisationsprozessen und historischen "Prägungen" verdanken -- und andere mit anderen. Jede(r) von uns ist also "multilokalisiert" und "multikollektiv" -- und das ist auch noch deutlich veränderlich.
Aus dieser Perspektive ist jegliche Verwendung von "Kultur" im Sinne einer Vereinnahmung, eines Anspruchs an andere, ("gefälligst") so oder so zu sein, nicht tragbar.
Gleichzeitig gilt dieses Verständnis von Kultur zunächst einmal in analytischer Hinsicht: Wer diese Einsicht(en) gewonnen hat, kann nicht mehr davon ausgehen, dass aufgrund irgendeiner selbst oder fremd formulierten kulturellen "Zugehörigkeit" eine ganz bestimmte Art des Denkens, Fühlens, Glaubens, Handelns und Wertens erwartet werden kann -- und zwar nicht nur im Sinne von Verlangen oder Anspruch (s.o.), sondern auch im Sinne einer Mutmaßung, dass etwas so sei.
Gleichzeitig wäre es aber vermessen, angesichts dieser analytischen Einsicht in die Multidimensionalität und Konstruktivität von Kultur(en) davon auszugehen, dass Vorstellungen von Gemeinsamkeiten kultureller Art letztlich reine Phantasieprodukte und letztlich unwirksam seien und dass kulturelle Identitäten, die Menschen nutzen, ihnen ausgeredet werden müssten. Man kann eben auch nicht zu einem Menschen aus, sagen wir, Israel sagen, er habe keine jüdische Kultur, das sei Einbildung, er (oder sie) solle das vergessen. "Kultur(en)" sind eben nicht nur analytische Konzepte, sondern wirksame Denkmuster (ich sage: Sinnbildungsmuster; vgl.Körber 2010) der Vergesellschaftung.
Die Wirksamkeit solcher Kulturvorstellungen beruht u.a. darauf, dass wir im Alltag durchaus wahrnehmen, dass unsere kulturellen Standards, also diejenigen Aspekte des Denkens, Welt-Wahrnehmens, Glaubens, Fühlens, etc., die insofern kontingent sind, als andere Menschen sie auch anders haben/tun etc. können, die von uns im Alltag aber nicht immer reflektiert werden, weil sie gewissermaßen "selbstverständlich" geworden sind, dass diese Aspekte ja weder von allen Menschen einheitlich vollzogen werden (das ist in der Prämisse schon gesagt), aber auch nicht zufällig zwischen allen Individuen verteilt sind -- sondern nach bestimmten "patterns", die etwas mit Sozialisation und Kommunikation sowie Gemeinsamkeit zu tun haben: Menschen, die enger miteinander kommunizieren, somit gemeinsame "Kulturalität(en)" zuzuschreiben, ist ein Akte der Sortierung der eigenen Wahrnehmungen und der Bildung von Sinn über die Erfahrung von Kontingenz.
Das hat mehrere Konsequenzen -- insbesondere für Konzeptionen von Kulturen in gesellschaftlicher Kommunikation und für kulturelles Lernen.
In diesem Zusammenhang würde ich spontan fragen, ob man nicht unterscheiden muss zwischen mehreren Sprechweisen (1) über Kultur(en) insgesamt und (2) solchem über "nationale" Kulturen:
zu (1) Macht es nicht einen Unterschied, ob ich den Begriff "Kultur" (a) analytisch gebrauche, um die Wahrnehmung von (partieller, s.o.) Gemeinsamkeit auszudrücken, um etwa festzustellen, dass die jeweilige (weil veränderliche) deutsche Gesellschaft durchaus bestimmte Gemeinsamkeiten im Umgang miteinander und mit der Welt ausgeprägt hat, die nicht nur sprachlicher Natur sind, oder ob ich ihn (b) in dem Sinne normativ gebrauche, dass ich bestimmte Formen des Umgangs mit Welt und Kontingenz in einer solchen Gesellschaft für wünschenswert und zu pflegen (kultivieren) halte, oder ob ich (c) sie in einem anderen Sinne normativ verwende, dass ich nämlich ihre Einhaltung einfordere mit der enthaltenen Drohung, eine Abweichung gewissermaßen als Grund für Exklusion aus der Gemeinschaft (oder für Strafen) zu verwenden?
Im Sinne von (c) von "deutscher" Kultur zu sprechen, dass daraus ein Exklusions- oder sanktionsbewehrter Anspruch an das verhalten des Einzelnen abgeleitet wird (wer nicht xx so sieht/denkt/fühlt/glaubt/wertschätzt etc., wie "man" es "als" Angehörige(r) der Gruppe xx (hier: der "Deutschen" tut, gehört nicht dazu, nicht hierher, sei zu deportieren, etc. -- das ist ein theoretisch unplausibler und auch unter humanistischen Gesichtspunkten unzulässiger Gebrauch des Kulturbegriffs. Dies ist der Kulturbegriff des "Leitkultur-Konzepts".
Dagegen: So propagieren, zu lehren, zu argumentieren, dass man angesichts bestimmter erkannter Gemeinsamkeiten bestimmte Dinge auf eine gewisse Art und Weise tun möge, sich zu bestimmten Dingen auf eine bestimmte Art verhalten möge, ist weniger problematisch -- sofern damit keine Sanktion verbunden ist (s. 1 (b)). Dieser normative Kulturbegriff ist sogar nötig. Nur mit ihm kann etwa formuliert werden, dass die Anerkennung der "Haftungsgemeinschaft" für die Folgen des Holocaust, die Anerkennung, dass "nach Auschwitz" nie gedacht werden darf als "ohne Berücksichtigung der Lehren von Auschwitz", zur deutschen Kultur gehört und gehören müsse. Man kann mit diesem Begriff natürlich ebenso "Goethe-Gesellschaften" und anderes als Bestandteile der "kultur" reklamieren -- und mit Beobachtungen tatsächlich etablierter Gemeinsamkeiten argumentieren -- aber das ist notwendiger Bestandteil eines nicht-vorschreibenden Kulturbegriffs: Wo ich vielfältige, sich durchdringende und überlappende, nicht aber in ihrer Gesamtheit verpflichtende Gemeinsamkeiten als Kultur(en) oder Kulturalitäten anerkenne, müssen sie auch normativ verhandelt werden können.
Das ist auch deshalb nötig, weil ich einen solchen Kulturbegriff eben nicht in Bezug auf "unsere"(?) "eigene" (?) Gesellschaft ablehnen dürfte. ich müsste dann auch sagen, dass etwa die gemeinsamen Erfahrungen von Menschen mit "uns" und auch völlig abseits von uns keine (partialen!) Identitäten begründen können. Soll man, weil man keine deutsche Kultur anerkennen mag, auch sagen, es gäbe keine afroamerikanischen Kultur(en), keine Kultur(en) von Roma und Sinti -- etc.?
Es tut also Not, zwischen analytischer und emphatisch zuschreibender Verwendung des Kulturbegriffs zu unterscheiden, ohne diese Gebrauchsweisen völlig voneinander zu trennen.
Bleibt noch Punkt (2): Vielleicht sollte man auch zwischen einer "deutschen Kultur" mit kleinem "d" unterscheiden und einem Gebrauch des Begriffs mit großem "D". Letzteres bezeichnete dann wohl den emphatisch-exkludierenden Begriff, der eine(!) Kultur postuliert und daraus Forderungen und Ansprüche an bestimmtes Verhalten und Denken ableitet. Dem ist wirkllich entgegen zu treten.
Eine Feststellung, dass es kulturelle Formen, Gemeinsamkeiten des Denkens und Handelns, des Sich-Verhaltens gibt, die eben nicht irgendwo, sondern in Deutschland entstanden sind (und die eben auch nicht nur positiv sein müssen: der analytische Kulturbegriff greift auch "Un"-Kultur, also nicht zu kultivierende, sondern zu überwindende Gemeinsamkeiten), und für die man etwa von einer deutschen (nicht: "Deutschen") Erinnerungskultur etc. sprechen kann, ist m.E. gerechtfertigt,
Nun: In welchem Sinne hat Frau Özoguz das Konzept abgelehnt? Meint Sie: es gibt keine "Deutsche Kultur" mit großem D? Worüber sprechen die anderen? (und worüber ich?)