Im Zusammenhang mit der Fußball-Weltmeisterschaft 1978 in Argentinien kritisierten die leitenden Medien in der Bundesrepublik Deutschland den Deutschen Fußball-Bund (DFB) für seine uneindeutige Haltung zum Nationalsozialismus. Hintergrund waren nicht zuletzt Kontakte, die Spitzenfunktionäre des DFB nach wie vor zu früheren Nazis pflegten, die nach 1945 in Südamerika untergetaucht waren. Der Sporthistoriker Dr. Nils Havemann spricht in diesem Zusammenhang vom "Mythos eines rechten DFB". Auf der 12. Sporthistorischen Konferenz der Schwabenakademie Anfang des Jahres hat er dazu einen Vortrag gehalten. Wir haben ihm unsere Fragen gestellt.
"Die Weltenmetapher Fußball als wichtige Ressource"
Interview mit Nils Havemann über das Image des DFB in den 1970er Jahren
"Der Fußballsport ist eine Brutstätte für Mythen"
L.I.S.A.: Herr Dr. Havemann, Sie haben sich vor gut einem Monat an der 12. Sporthistorischen Konferenz der Schwabenakademie in Irsee beteiligt. Thema der Konferenz waren politische Fußball-Mythen. Was sind Fußball-Mythen und ab wann werden sie politisch?
Dr. Havemann: Der Begriff „Mythos“ wird im Fußball nicht streng nach religions- oder literaturwissenschaftlichen Kriterien benutzt. Vielmehr wird er wie in der Alltagssprache auf Personen oder Ereignisse angewandt, die eine höhere symbolische Bedeutung zu haben scheinen und dadurch empfänglich sind für fiktionale Ergänzungen oder drastische Falschbehauptungen. Der Fußballsport ist deshalb eine Brutstätte für solche Mythen, weil er aufgrund der engen Bindung der Zuschauer zu ihren Vereinen und Lieblingsspielern mit Emotionen aufgeladen wird, die bisweilen den klaren Blick auf das Geschehen trüben. Mythen entstehen im Fußball aber auch dadurch, dass er häufig als große Weltenmetapher angesehen wird, mit der die verwirrenden Entwicklungen in Politik und Gesellschaft vereinfachend erklärt werden sollen. Dadurch entwickelt das runde Leder eine starke Anziehungskraft auf politische Überzeugungen, ideologische Anschauungen oder gesellschaftliche Konflikte, die mit dem im Grunde simplen Spiel auf dem Platz kaum etwas zu tun haben.
"Und dann tauchte während des Turniers ein überzeugter Nationalsozialist auf"
L.I.S.A.: Sie haben auf der Tagung einen Vortrag über einen mit dem Deutschen Fußball-Bund (DFB) verbundenen Mythos gehalten, genauer über den Mythos vom „rechten“ DFB, der in den 70 Jahren gepflegt worden sei. Was genau war das Narrativ dieses Mythos? Was machte in den Augen damaliger Zeitgenossen den DFB „rechts“?
Dr. Havemann: Der Mythos vom „rechten“ DFB basiert vor allem auf den Ereignissen vor und während der Weltmeisterschaft von 1978 in Argentinien. In Argentinien regierte damals mit Jorge Rafael Videla ein General, der die terroristischen Umtriebe diverser Gruppierungen als Legitimation dafür benutzte, einen brutalen Krieg gegen die Opposition zu führen. Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international versuchten damals, den DFB dazu zu bewegen, gegen die eklatanten Menschenrechtsverletzungen in Argentinien öffentlich Stellung zu beziehen. Als der DFB dies unterließ, stand der Verband in den öffentlichen Diskursen als eine Organisation da, die eine „rechtsgerichtete“ Junta und ihre Verbrechen deckt. Und dann tauchte während des Turniers in Ascochinga, dem Quartier der bundesdeutschen Nationalmannschaft, auch noch Hans-Ulrich Rudel, ein überzeugter Nationalsozialist, auf. Der damalige DFB-Präsident Hermann Neuberger lieferte eine Steilvorlage für die Entstehung des Mythos, indem er den Besuch Rudels mit den Worten rechtfertigte: „Herr Rudel ist meines Wissens Bundesbürger mit vollen Rechten wie die Protestierenden und ich. Ich hoffe doch nicht, dass man ihm seine Kampffliegertätigkeit aus dem Zweiten Weltkrieg vorwerfen will.“ Von dieser Warte aus ist es nicht verwunderlich, dass Neuberger als ein verkappter „Nazi“ galt und dass es von nun an hieß, der „rechte“ DFB versuche mit dem Eintreten für unverbesserliche Nationalsozialisten auch nationalsozialistische Positionen wieder hoffähig zu machen.
"Ein weiterer beliebter Fußballmythos"
L.I.S.A.: Inwiefern handelt es sich bei der Erzählung von einem politisch rechten DFB Ihrer Meinung nach nur um einen Mythos? Was halten Sie dem entgegen?
Dr. Havemann: Im Grunde ist die Erzählung vom „rechten“ DFB ein Mythos im Mythos: Zunächst ist schon die Behauptung, wonach der Nationalsozialismus „rechts“ gewesen sei, ein Mythos. Die Historiographie hat in jahrzehntelanger intensiver Forschung herausgearbeitet, dass der Nationalsozialismus auch sehr viele „linke“ Elemente in sein synkretistisches Weltbild einbezog und dass daher solche simplen Rechts-Links-Schemata bei seiner Analyse nicht sonderlich ergiebig sind. Um zu verstehen, warum der zweite Mythos, jener vom „rechten“ DFB, so langlebig und erfolgreich war, ist es notwendig, sich zu vergegenwärtigen, worum es beim ersten Mythos, jenem vom „rechten“ Nationalsozialismus, geht: nämlich darum, politische Herrschaft mit Hilfe von griffigen Schlagwörtern auszuüben. Indem politische Positionen, Personen oder Institutionen mit schwer zu definierenden Begriffen wie „rechts“ – oft in Kombination mit ebenso vagen Begriffen wie „konservativ“, „national“ oder „populistisch“ – belegt und im selben Atemzug in die geistige Nähe zum Nationalsozialismus gerückt werden, werden sie auch im moralischen Sinne als falsch und böse abgestempelt. Die Absicht dieses Mythos besteht darin, solche Positionen, Personen oder Institutionen aus politischen und gesellschaftlichen Diskursen auszuschließen, ohne inhaltlich darlegen zu müssen, was an ihnen tatsächlich moralisch falsch und böse ist: Die bloße Assoziation solcher Begriffe mit dem Nationalsozialismus soll dafür genügen. Es handelt sich also um einen im Grunde simplen „argumentativen“ Trick, den diejenigen anwenden können, die in den politischen Debatten die Deutungshoheit über solche Begriffe haben.
Der zweite Mythos, jener vom „rechten“ DFB, fällt rasch in sich zusammen, wenn man bedenkt, dass sich Hermann Neuberger im Vorfeld der Weltmeisterschaft sehr wohl dazu entschieden hatte, gegen die Menschenrechtsverletzungen in Argentinien zu protestieren und sich konkret für Verfolgte einzusetzen. Er unterließ es aber auf Druck der damaligen sozialliberalen Bundesregierung unter Helmut Schmidt, die nach dem „deutschen Herbst“ von 1977 in der argentinischen Militärregierung einen Verbündeten gegen den weltweiten „Linksterrorismus“ erblickte. Sie warnte den DFB-Präsidenten vor den Gefahren für die Sicherheit auch der bundesdeutschen Nationalmannschaft, falls er sich in dieser Frage politisch exponieren würde. Und mit dem Besuch von Rudel in Ascochinga hatte Neuberger nach heutigem Kenntnisstand nichts zu tun: Rudel kam als persönlicher Bekannter des damaligen Bundestrainers Helmut Schön ins Quartier der Nationalmannschaft. Schön gab dies in einem Interview – für jeden nachlesbar – zu: „Ich kenne Herrn Rudel aus der Herberger-Zeit. Warum soll ich diesen Mann nicht begrüßen? Er hat im Krieg Hervorragendes geleistet.“ Neuberger folgte also in seiner Rechtfertigung des Besuchs inhaltlich den Ausführungen seines leitenden Angestellten, dem nach einer langen erfolgreichen Karriere ein ehrenvoller Abschied von seinem Amt als Bundestrainer verschafft werden sollte. Dennoch wurde in den Jahrzehnten darauf bis in die jüngste Vergangenheit hinein selbst in unserer „Qualitätspresse“ immer wieder behauptet, nicht Schön, sondern Neuberger habe Rudel in Ascochinga empfangen, obwohl der DFB-Präsident an diesem Tag in Buenos Aires, also rund 800 Kilometer entfernt, weilte. Es gibt sogar Briefe von Redakteuren der „Süddeutschen Zeitung“ und des „stern“, in denen sie Neuberger um Entschuldigung dafür baten, dass sie in ihren Medien das Gegenteil behauptet hatten. Dennoch waren es dieselben Medien, die nach dem Tod von Neuberger (1992) den Mythos immer wieder aufwärmten und mit ermüdender Regelmäßigkeit schrieben, Neuberger habe Rudel empfangen. Die Vermutung ist nahe liegend, dass sie dies wider besseren Wissens taten, weil Neuberger allein schon aufgrund seiner kalt wirkenden Physiognomie weitaus mehr zur Skandalisierung des angeblich „rechten“ DFB taugte als der populäre Helmut Schön. Schön wurde immer als gutmütiger, warmherziger, altväterlicher Trainer betrachtet, der – ein weiterer beliebter Fußballmythos – die „spielerisch beste deutsche Nationalmannschaft aller Zeiten“, die Europameister von 1972, im „linksliberalen“ Geiste der „68er“ geformt habe. Der Versuch, den „Mann mit der Mütze“ zum „Nazi“ zu stempeln und ihn als leibhaftigen Beweis für den „rechten“ DFB anzuführen, wäre aufgrund der breiten Sympathien, die er in allen Teilen der Bevölkerung genoss, gescheitert.
"Der DFB geht ein beträchtliches Risiko ein"
L.I.S.A.: Wenn man dem Fußball eine mythische Kraft gerade auch im Politischen zuspricht, für wen genau ist er dann eine Ressource? Eher für das Bestehende oder eher für das Aufbegehrende?
Dr. Havemann: Wer die Deutungshoheit über die Sprache im Fußball besitzt und wer über die Macht verfügt, die im Sport erzeugten Bilder medial zu verbreiten und im Sinne der eigenen Interessen zu interpretieren, wird in der großen Weltenmetapher Fußball eine wichtige Ressource erblicken. Dies können diejenigen sein, die für das Bestehende sind, ebenso wie diejenigen, die das Bestehende aufzubrechen versuchen.
L.I.S.A.: Welches Feedback haben Sie auf Ihren Vortrag erhalten?
Dr. Havemann: Zur Dekonstruktion des Mythos vom „rechten“ DFB ist mir bislang kein Widerspruch bekannt. Die Ereignisse um die Weltmeisterschaft in Argentinien lassen sich anhand der Quellen mittlerweile sehr gut rekonstruieren, und solange keine neuen Dokumente auftauchen, die vielleicht wieder ein anderes Licht auf diese Geschehnisse werfen, dürfte es schwer sein, den Mythos vom „rechten“ DFB zu belegen. Dies gilt umso mehr, als die Forschung mittlerweile auch andere Geschichten (beispielsweise die angebliche „Sieg_Heil-Rede“ von DFB-Präsident Peco Bauwens nach dem Sieg bei der Weltmeisterschaft 1954), die im Zusammenhang mit dem „rechten“ DFB immer wieder verbreitet wurden, von mythischen Ausschmückungen befreit hat.
Worüber man sicherlich streiten kann, im Interesse eines vertieften Erkenntnisgewinns vielleicht sogar streiten muss, sind die weiterführenden Schlüsse, die ich auf der Konferenz aus der Dekonstruktion des Mythos gezogen habe. Denn meine Hypothese lautet, dass dieser Mythos unter anderem deshalb in die Welt gesetzt und so intensiv gepflegt wurde, um einen als „rechts“ stigmatisierten Verband zu einer „linken“ Sport- und Gesellschaftspolitik in dem Sinne zu bewegen, wie er sie seit etwa 2005 tatsächlich betreibt: Er hat sich, wie zahlreiche Aktionen, Kampagnen und Äußerungen seiner Repräsentanten bezeugen, dem gesellschaftlich verbreiteten „Kampf gegen rechts“ angeschlossen. Nun wird kaum jemand bestreiten, dass der Einsatz gegen Rassismus, Antisemitismus und Gewalt auch im Fußball eine wichtige und richtige Aufgabe ist. Allerdings hat der DFB dabei anscheinend nicht bedacht, dass Rassismus, Antisemitismus und Gewalt unter Personen oder Gruppen, die sich als „links“, „antikapitalistisch“ oder „antifaschistisch“ betrachten, ein ähnlich virulentes Problem darstellen, also keine Frage der politischen Ausrichtung oder (Selbst-)Etikettierung sind.
Die Folgerung daraus, nun auch den „Kampf gegen links“ auszurufen, wäre indes ebenso absurd, wie es der „Kampf gegen rechts“ ist. Denn zunächst gehören beide politische Richtungen zum breiten Meinungsspektrum, die von einer Demokratie gedeckt werden und erst dann zu sanktionieren sind, wenn Äußerungen oder Taten ihrer Repräsentanten gegen geltendes Recht verstoßen. Außerdem ist es auch im Fußball extrem schwierig, eine allgemein anerkannte Definition dafür zu formulieren, wo „rechtes“ oder „linkes“ Denken überhaupt beginnt. Solche politischen Kampagnen können daher rasch in Willkür umschlagen oder ins Lächerliche abgleiten. Um diese Gefahr zu verdeutlichen, möchte ich nur eine Streitfrage nennen, die bei einer solchen Diskussion um „rechts“ oder „links“ im Fußball zwangsläufig auftaucht: Ist es noch legitimer Wunsch nach Pflege lokaler, regionaler oder nationaler Identitäten oder schon gefährlicher Ausdruck von „rechtem“ Denken, wenn man in seiner Mannschaft anstatt vieler ausländischer Spieler lieber Akteure sieht, die der eigenen geographischen Heimat entstammen?
Dass sich ein Sportverband wie der DFB politisch derart einseitig im „Kampf gegen rechts“ positioniert hat, um das Stigma des „rechten“ Verbandes loszuwerden, ist aber noch aus drei weiteren Gründen nicht klug: Zunächst lädt er den Fußball damit auch parteipolitisch auf, was – wie die Diskussionen bei Eintracht Frankfurt zeigen, ob AfD-Wähler oder AfD-Sympathisanten Vereinsmitglieder sein dürfen – die große Gemeinschaft der Fußballfreunde zu zerreißen droht. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass die Unterstützung für den „Kampf gegen rechts“ aufgrund der moralischen Aufwertung, die „linke“ Fangruppierungen daraus für sich ziehen können, hemmungslose „antikapitalistische“ Aggressionen, wie sie beispielsweise gegen Sponsoren wie Dietmar Hopp oder gegen Vereine wie RB Leipzig zu beobachten sind, zusätzlich begünstigt. Und nicht zuletzt geht der DFB ein beträchtliches Risiko ein, das für Sportverbände immer besteht, wenn sie den Wünschen der Mächtigen entgegenkommen: Niemand kann heute wissen, ob er mit seinen politischen oder gesellschaftlichen Ansichten auf der richtigen Seite der Geschichte steht, und was uns heute als unumstößlich wahr erscheint, kann sich schon in einigen Jahren unter dem Eindruck neuer Erfahrungen und Erkenntnisse als schrecklicher Irrtum erweisen. Von dieser Warte aus ist es zumindest diskutabel, ob Sportverbände nicht besser beraten wären, sich grundsätzlich den Ansprüchen der Politik zu entziehen. Ob sie dazu mit Blick auf ihre Neigung, selbst Ansprüche an die Politik zu stellen, überhaupt imstande sind, wäre die damit eng verbundene Frage.
Dr. Nils Havemann hat die Fragen der L.I.S.A.Redaktion schriftlich beantwortet.