In weiten Regionen West- und Mitteleuropas endete bereits im Spätmittelalter das Zusammenleben von Juden und Christen infolge von Ausschreitungen, Pogromen und Ausweisungsedikten. Die christlichen Königreiche der Iberischen Halbinsel stellten in dieser Hinsicht einen Sonderfall dar, weil hier noch im 15. Jahrhundert große Bevölkerungsgruppen jüdischen und muslimischen Glaubens anzutreffen waren. Diese besondere Situation wird in der Forschung unter dem Begriff Convivencia zusammengefasst. Die Ursachen der Convivencia liegen in der Nachbarschaft zum muslimischen Herrschaftsgebiet und den besonderen Bedingungen dieser Grenzsituation.
Die Geschichte der Iberischen Halbinsel stand von 718 bis zur Eroberung Granadas im Jahr 1492 unter dem besonderen Kennzeichen der Reconquista. Während dieser Zeit verschob sich die Grenze zwischen christlichen und muslimischen Gebieten von den Pyrenäen langsam bis nach Andalusien. Dabei darf keineswegs von einheitlichen Herrschaftsgebieten der jeweiligen Religion ausgegangen werden. In dem langen Zeitraum von beinahe 800 Jahren gab es ebenso längere Friedensphasen wie auch Bündnisse einzelner Herrscher über die religiösen Gegensätze hinweg.
Den Juden kam in dieser permanenten Grenzsituation eine außerordentliche Bedeutung zu. Durch enge verwandschaftliche Beziehungen und alte Handelskontakte trugen sie einen nennenswerten Teil des mittelmeerlichen Handels über die Grenzen hinweg und waren auch häufig in der Diplomatie und insbesondere in den muslimischen Gebieten in den Wissenschaften anzutreffen. Sie besaßen daher in kultureller, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht eine Scharnierfunktion zwischen muslimischer und christlicher Welt.
Die gesamte Iberische Halbinsel bot noch im Spätmittelalter im Vergleich zu anderen Gebieten Europas außerordentlich positive Lebensbedingungen für die Juden, so dass gelegentlich von einer Oase gesprochen wird. Dabei boten die christlichen und muslimischen Reiche grundsätzlich verschiedene Voraussetzungen: Im muslimischen Teil Spaniens besaßen die Juden durch den Rechtsstatus des Dhimmi relative Autonomie. Die Situation der Juden war allerdings auch in diesem Teil Spaniens Schwankungen unterworfen.
Über das jüdische Leben im christlichen Norden konnte ein recht gut erforschtes Bild ermittelt werden: Den Juden standen ähnlich wie in anderen Regionen nur bestimmte Tätigkeiten offen. Die Bevölkerungsgruppe gliederte sich in eine breite Unterschicht und eine schmale, weitgehend assimilierte Oberschicht. Der Wohnort der Juden war die Aljama, ein geographisch fest definiertes Viertel, in dem kulturelles und religiöses Leben mit einem gewissen Maß an Selbstverwaltung möglich war.
Die Convivencia wurde jedoch seit dem späten 13. Jahrhundert durch zunehmende Marginalisierung zunehmend in Frage gestellt. Im Zuge der fortschreitenden Zurückdrängung des muslimischen Herrschaftsraumes nahm die religiöse Intoleranz zu, während gleichzeitig prekäre wirtschaftliche und soziale Situationen zu zusätzlichen Spannungen führten. Die schweren Progrome weisen eindeutig eine zeitliche Parallelität zu krisenhaften ökonomischen und sozialen Entwicklungen auf. Die ursprünglich offenen Aljamas wiesen allmählich Charakteristika eines Ghettos auf.
Vor diesem Hintergrund trat ein Phänomen zutage, das auch für andere Regionen nachweisbar ist: Die verschiedenen Königs- und Fürstenhäuser stellten die jüdischen Gemeinschaften unter ihren Schutz und erhoben dafür im Gegenzug Abgaben und Steuern. Es lässt sich in den 200 Jahren vor der Vertreibung eine parallele Zunahme von Gewalttaten und Ausgrenzung gegen Juden einerseits und Steuerlast auf den jüdischen Gemeinden andererseits feststellen.
Die schweren Progrome des Jahres 1391 müssen als Wendepunkt der jüdischen Geschichte in Spanien angesehen werden, weil jüdisches Leben in Spanien seitdem im Grunde nur noch als Torso existierte, bis es durch das Vertreibungsedikt im Jahr 1492 völlig verschwinden sollte.
Im Zuge starken Drucks auf die jüdischen Gemeiden gewann die Bevölkerungsgruppe der Conversos, getaufter Juden, an gesellschaftlicher Relevanz. Erst durch die Taufe unterlagen sie der Jurisdiktion der Inquisition, die 1478 einsetzte. Ermittlungen der Inquisition gegen Conversos wegen des Vorwurfs des „Judaisierens“, d. h. des heimlichen Praktizierens des jüdischen Glaubens, kamen häufig vor und waren im Falle der Verurteilung schwerwiegend. Vor allem die getauften Nachkommen von Juden wurden in ihrem sozialen und ökonomischen Tätigkeitsbereich durch die Statuten der „limpieza de sangre“ (Reinheit des Blutes) eingeschränkt und durch die Inquisition bedroht.
Ferdinand von Aragonien und Isabella von Kastilien bemühten sich seit dem späten 15. Jahrhundert, das durch ihre Eheschließung und durch die Eroberung Granadas geschaffene Herrschaftsgebiet durch eine Instrumentalisierung religiöser und kirchlicher Angelegenheiten zu einem einheitlichen Reich verschmelzen zu lassen. Diese Zielsetzung ließ sich nicht mit der Existenz großer jüdischer und muslimischer Bevölkerungsgruppen vereinbaren. Jürgen Wenzel beschreibt und analysiert die Entwicklung bis zu dem Vertreibungsedikt gegen die Juden im Epochejahr 1492 und der Vertreibung der Muslime aus Kastilien im Jahr 1502.
Ein Vergleich der beiden Vertreibungsedikte zeigt deutliche Unterschiede auf: Die Vorgänge im Jahr 1492 führten tatsächlich zu einer Abwanderung nennenswerter Teile der jüdischen Bevölkerung. Die Alternative, durch die Taufe den christlichen Glauben anzunehmen und somit in der Heimat verbleiben zu können, wurde offenbar seltener gewählt. Dies mag damit zusammenhängen, dass sich die Lebensbedingungen für die Juden in Spanien in den zwei Jahrhunderten vor diesem Ereignis kontinuierlich verschlechtert haben. Die Teile der jüdischen Bevölkerung, die auch unter diesen Umständen an ihrem Glauben festhielten, waren offenbar in ihrem Glauben stark gefestigt. Durch den Verlust von Spezialisten infolge der Vertreibung kam es zu spürbaren Krisen in verschiedenen Branchen, insbesondere im Wollhandel und im Bereich der Geldwirtschaft.
Anlass für das Vertreibungsedikt des Jahres 1502 gegen die muslimische Bevölkerung war ein Aufstand in Granada. Hier stand offenbar die Absicht im Vordergrund, durch die Taufe eine Bevölkerungsgruppe zu assimilieren und sie der Jurisdiktion der Inquisition zu unterstellen. Die Vertreibung der Moriscos, der getauften Muslime bzw. ihrer Nachkommen, die erst am Anfang des 17. Jahrhunderts erfolgte, stand dagegen unter deutlich anderen Vorzeichen und führte ebenfalls zu ökonomischen Verwerfungen.
Zur Größe der jüdischen bzw. muslimischen Bevölkerungsgruppe im christlichen Herrschaftsbereich lassen sich ebenso wie zu
Die Moriscos waren vornehmlich als Hilfskräfte in landwirtschaftlichen Bereichen im Süden der Iberischen Halbinsel vertreten. Obwohl sie formal ebenso wie die Conversos der Inquisition unterstanden, lässt sich hier keine nennenswerte Kontrolle bzw. Verfolgung feststellen. Diese Beobachtung lässt den Schluss zu, dass die Inquisition häufig Anwendung fand, wenn finanzielle Interessen oder soziale Konkurrenz eine Rolle spielten.
Bibliographische Angaben: Jürgen Wenzel: Die Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahr 1492. BOD – Books on Demand Norderstedt 2013. ISBN 978-3848260638.