Die deutsche Diplomatie reagiert mit Unverständnis gegenüber Ländern, welche sich dem Regime des atomaren Nichtverbreitungsvertrages nicht uneingeschränkt beugen. Doch die Bundesrepublik Deutschland verzichtete selbst nur sehr zögerlich auf die Option einer Verfügungsgewalt über Atomwaffen. Erst nach langem Widerstand unterzeichnete die Bundesregierung 1969 den damals so genannten „Atomwaffensperrvertrag“. Heute hat die Staatengemeinschaft Ärger mit den atomaren Ambitionen nicht nur Irans und Nordkoreas. In der Rolle des nuklearen Störenfrieds befand sich ausgerechnet die Bundesrepublik Ende der 1960er.
Der lange deutsche Abschied von den Atomwaffen
Quelle: Bundesarchiv, B 145 Bild-F027410-0011 / Berretty / CC-BY-SA
"Bremser eines atomaren Proliferationsverbotes"
Anfang Februar 1967 machte der neue Außenminister Willy Brandt den drängelnden Amerikanern klar, dass die Bundesregierung noch erhebliche Bedenken gegen den geplanten Nichtverbreitungsvertrag habe. Zu sehr fürchte man eine nukleare Erpressung, noch mehr aber eine Behinderung der damals in Deutschland noch allseits hoch geschätzten zivilen Nutzung der Kernenergie. Der große Entspannungspolitiker und spätere Friedensnobelpreisträger Brandt zeigte sich hier als Bremser eines atomaren Proliferationsverbotes, eines Ausschlusses der Bundesrepublik von der Verfügung über Atomwaffen. Mag dieses Verhalten heute befremden, so erscheinen die damaligen Stellungnahmen von Brandts Koalitionspartnern aus der Union wie von Irans Präsidenten Ahmadinedschad verfasst. Altkanzler Konrad Adenauer nannte den geplanten Vertrag im „Spiegel“ einen „Morgenthau-Plan im Quadrat“, CSU-Vorsitzender Franz Josef Strauß sprach von „einem neuen Versailles, und zwar einem von kosmischen Ausmaßen“ und Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger redete vom „atomaren Komplizentum“ der Supermächte. Die „Bild am Sonntag“ veröffentlichte 1967 Teile des geplanten Vertrages unter der Schlagzeile „Das Diktat der Atom-Giganten“. Strauß drohte sogar mit dem Bruch der Großen Koalition, sofern die Regierung den Atomwaffensperrvertrag unterschreibe. In einem Brief an Kanzler Kiesinger vom 15. Februar 1967 formulierte Strauß dramatisch:
„Ich werde gegen das Ja zu diesem Vertrag zunächst innerhalb der gegebenen Gremien, dann aber auch in der Öffentlichkeit mit letztem Nachdruck kämpfen. Hier ist für mich und für viele andere die Grenze dessen erreicht, was man Gewissen nennt. Hier endet Opportunismus und Taktik, hier beginnt der Bereich der letzten Verantwortung.“
Die Einwände des CSU-Vorsitzenden gegen den Vertrag wurden von vielen Politikern und Journalisten zwar zurückhaltender formuliert, inhaltlich aber auch von Sozialdemokraten und linksliberalen Journalisten zum Teil ähnlich gesehen. Worum ging es?
"Starfighter mit Atomsprengköpfen unter US-Kontrolle"
Schon vor dem ersten und bisher letzten Abwurf von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 bemühten sich die USA das Entstehen weiterer Atommächte zu verhindern. Jede neue Atommacht, die Sowjetunion, Großbritannien, Frankreich und China, schlossen sich diesem Bemühen an, galt es doch, das Entstehen unkontrollierbare Risiken zu verhindern. Dabei stand zunächst das Ziel im Vordergrund, die Bundesrepublik Deutschland von der Verfügungsgewalt über „die Bombe“ fern zu halten. Nach den Erfahrungen zweier Weltkriege war die Sorge vor einer erneuten deutschen Gefahr omnipräsent. Schon auf der Londoner Neunmächte-Konferenz hatte Bundeskanzler Konrad Adenauer am 2. Oktober 1954 in einer nur pro forma freiwilligen Erklärung auf die Herstellung von ABC-Waffen auf deutschem Gebiet verzichtet. Dies schloss die Möglichkeit des Erwerbs oder Besitzes aber eben nicht aus. Zudem relativierten Adenauer und sein Verteidigungsminister Strauß diesen Verzicht mehrfach mit der völkerrechtlichen „clausula rebus sic stantibus“ oder einem möglichen Widerruf der Erklärung. Und die bald erfolgte Bestückung von Trägermitteln der Bundeswehr mit amerikanischen Atomsprengköpfen, welche unter amerikanischer Verfügungsgewalt blieben, war mit der Verzichtserklärung ebenfalls vereinbar. Bis Ende der 1960er Jahre bemühte sich die Bundesregierung zudem in immer neuen Anläufen, einen „Finger an den Abzug“ der Atomwaffen zu bekommen.
Erfolg war diesem Bemühen insofern beschieden, als zu der Zeit an fünf deutschen Geschwaderstandorten je sechs startbereite Starfighter mit Atomsprengköpfen unter US-Kontrolle standen, welche freilich im Falle eines NATO-Befehls von amerikanischen Offizieren erst scharf gemacht werden mussten. Zudem wurden sie gegen eine unbefugten deutschen Nutzung strengstens von amerikanischen Soldaten bewacht. Eine geplante multilaterale Atomflotte mit gemischtnationalen Besatzungen kam dagegen wegen der Vorbehalte vieler NATO-Partner und letztlich auch der Amerikaner gegen diese Form der deutschen nuklearen Teilhabe nicht zustande.
Bild: Dr. Hoeres
"Würden die USA wirklich New York opfern, um Fulda zu schützen?"
Hinter den bundesdeutschen nuklearen Ambitionen standen durchaus rationale Erwägungen. Das geteilte Deutschland war die Nahtstelle des Kalten Krieges, der potentielle, auch atomare Kriegsschauplatz. Daher wollten die Deutschen verständlicherweise ein Mitspracherecht bei den atomaren Szenarien erhalten. Zudem galt es gerade unter der Doktrin der „massiven Vergeltung“, die Glaubwürdigkeit eines amerikanischen Beistandes zu sichern. Würden die USA wirklich New York opfern, um einen sowjetischen Vorstoß nach Fulda zu unterbinden?
Ferner zeigte sich mit dem Aufkommen neuer Atommächte, dass außenpolitische Souveränität und Gewicht zunehmend von der Verfügungsgewalt über Atomwaffen abhing. Die Gefahr bestand, dass deutsche Interessen, vorrangig das der Wiedervereinigung, zunehmend nach hinten auf der weltpolitischen Agenda gerieten, je mehr die Atommächte sich unter Ihresgleichen verständigten. Schließlich befand man sich in den 1960er Jahren, in denen die oben angeführten Zitate fielen, in einer Phase des Technikoptimismus, der allen voran und parteiübergreifend die friedliche Nutzung der Kernenergie favorisierte. Dieses Zukunftsfeld sah man nun durch einen Atomwaffensperrvertrag und die in ihm vorgesehen Kontrollen der Spionage und Restriktion ausgesetzt. Das waren also ganz ähnliche Bedenken, wie sie heute der Iran vorbringt. Zudem könnte, so befürchtete man damals, ein Nichtverbreitungsvertrag die europäische Einigung behindern, an welcher die Atommächte Frankreich und Großbritannien einerseits, nukleare „Have-Nots“ wie die Bundesrepublik und die Beneluxstaaten andererseits teilnahmen.
"Auf einmal am Katzentisch der Amerikaner"
Psychologisch am gravierendsten dürfte aber die deutsch-amerikanische Entfremdung gewesen sein, die der projektierte „Atomsperrvertrages“ bedeutete. In Bonn sah man sich seit dem Amtsantritt von John F. Kennedy am 20. Januar 1961 zunehmend übergangen. Unter Kennedy und seinen akademischen Beratern gewann die Entspannungspolitik die Priorität auf der amerikanischen Agenda, weder der Mauerbau 1961 noch die Kubakrise ein Jahr später konnten daran substantiell etwas ändern. Zudem verstrickten sich die Amerikaner unter Kennedy und seinem Nachfolger Lyndon B. Johnson immer mehr in einen zunehmend eskalierenden Vietnamkrieg. Die Aufmerksamkeit der USA wurde von Berlin und Bonn nach Saigon gelenkt. Hinzu kamen die inneren Unruhen in den USA im Zeichen der Bürgerrechtsproblematik und der Studentenbewegung. Kurzum, die Bundesdeutschen fanden sich auf einmal am Katzentisch der Amerikaner wieder, fühlten sich übergangen und nicht ausreichend konsultiert. Dies war besonders prekär, vertrauten doch die meisten Bundesdeutschen weiterhin vor allen anderen Nationen den Amerikanern, war das deutsch-amerikanische Bündnis „das zweite Grundgesetz der Bundesrepublik“, wie es der CDU-Politiker Walther Leisler-Kiep einmal formulierte. Jede Störung oder Beeinträchtigung dieser in Deutschland mit Argusaugen verfolgten Beziehung führte zu einer erheblichen Depression der deutschen Musterschüler der Amerikaner.
Dies alles erklärt die verbalen Entgleisungen der Deutschen als Reaktion auf die Einigung der Supermächte auf dem Gebiet der Nichtweitergabe von Atomwaffen, welche die Bundesrepublik dauerhaft von der Verfügungsgewalt über Atomwaffen ausschließen sollte – und dies war zumindest für die Sowjets das Hauptziel des ganzen Vertrages. Deren Berufung auf die UN-Feinstaatenklausel verlor dann bei der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ ihren akademischen Charakter. Die Bundesrepublik stand also bei Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrages am 1. Juli 1968 und auch im Folgejahr erst einmal abseits, anders als die DDR, die sich mit ihrer Unterzeichnung einen Statusgewinn in ihrem internationalen Anerkennungskampf erhoffte. Erst mit Bildung der sozialliberalen Koalition, dann aber ziemlich schnell, nämlich am 28. November 1969, erfolgte die Bonner Unterschrift, nur einen Monat nach der Regierungsbildung. Die neue sozialliberale Koalition hatte die Unausweichlichkeit einer Unterzeichnung erkannt, sah diesen Akt vor allem aber als Ouvertüre für ihre Ostpolitik. Ratifiziert wurde der Vertrag deutscherseits erst 1974, gegen neunzig Neinstimmen aus den Reihen der Union.
Zuvor hatten die Amerikaner der Bundesrepublik erhebliche Zugeständnisse in den Verhandlungen um den Vertrag und bei der Interpretation des Vertrages gemacht. So sollten die eigentlichen Kontrollen von EURATOM und nicht der Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) durchgeführt werden und eine mögliche europäische Nuklearsukzession wurde von den USA als mit dem Vertrag vereinbar deklariert.
"Diskriminierende Verhandlungen sollten vermieden werden"
Im Zwei-plus-Vier-Vertrag wurde der deutsche Verzicht auf ABC-Waffen 1990 endgültig für das nun souveräne und wiedervereinigte Deutschland fest geschrieben. Fortan glänzten die Deutschen in Atomfragen – nun auch was die zivile Nutzung betrifft – mit Verzichts- und Abrüstungsinitiativen. Vergessen wird dabei oft, dass die Deutschen sich selbst einmal sehr schwer mit dem Verzicht auf Atomwaffen und mit den entsprechenden Kontrollen getan hatten.
Bei den heutigen renitenten „Have-Nots“ und ihren Ambitionen in regionalen Konflikten liegen die Probleme, besonders was das Verhältnis zu den USA betrifft, etwas anders. Man sollte aber vor dem Hintergrund der aufgezeigten Geschichte bedenken, dass Atomfragen immer auch innen- wie außenpolitische Prestigefragen sind und vermeintliche oder tatsächliche ökonomische Implikationen besitzen. Dem sollte die Diplomatie Rechnung tragen. Die USA werden von vielen „Have Nots“ als atomare Diktatoren wahrgenommen, ein diskriminierender Charakter der Verhandlungen und der Kontrollen sollte daher unbedingt vermieden werden. Zudem gilt die zivile Atomenergie in vielen Ländern, wie früher in Deutschland, als Schlüssel- und Zukunftstechnologie, ihre Nutzung und Entwicklung sollte nicht von außen beeinträchtigt werden, auch wenn man hierzulande heute ganz andere Formen der Energiegewinnung favorisiert. Deutschland könnte seine Erfahrungen mit dem langen und schmerzhaften Weg zum Atomwaffenverzicht durchaus gewinnbringend in die internationale Diskussion einbringen. Das Leitbild des ehrlichen Maklers, der seine eigenen historischen Erfahrungen etwa mit dem Kompromiss einer zwischengeschalteten regionalen Kontrollorganisation einbringt, wäre in diesem Fall aber vorteilhafter als das des gesinnungspazifistischen Strebers. Eine moralische Aufladung der Atomdiplomatie, wie derzeit allenthalben zu beobachten, schadet dem Ziel des Nonproliferation. Verbale Abrüstung ist also dringend angeraten, denn auch nach einem Führungswechsel im Iran und in Nordkorea werden diese Staaten wie weitere „Have Nots“ sich nicht umstandslos dem Regime der Atommächte unterwerfen.
Von Peter Hoeres erscheint im Juli 2013
Außenpolitik und Öffentlichkeit. Massenmedien, Meinungsforschung und Arkanpolitik in den deutsch-amerikanischen Beziehungen von Erhard bis Brandt (Reihe: "Studien zur Internationalen Geschichte"), Oldenbourg: München 2013.
http://www.oldenbourg-verlag.de/wissenschaftsverlag/aussenpolitik-und-oeffentlichkeit/9783486723588