Ärzteschaft und Pflegekräfte sind in der Corona-Pandemie die Berufsgruppen, die dem größten gesundheitlichen Risiko ausgesetzt sind. Sie sind tagtäglich mit infizierten Menschen in Kontakt, behandeln und pflegen sie. Dabei arbeiten die sogenannten Care-Beschäftigten unter schwierigen Bedingungen - das Personal ist knapp, viele erforderliche Mittel sind Mangelware. Und das, obwohl es hier um das Elementarste geht, worum Menschen sich zu sorgen haben: um das Leben. Die Sozialwissenschaftlerin Prof. Dr. Gabriele Winker von der Technischen Universität Hamburg meint, dass es dabei allerdings nicht nur einfach um das Leben gehe, sondern vor allem um ein gutes und ein würdevolles Leben. Dafür sind Symbolhandlungen, wie zuletzt ritualisierter Applaus von Balkonen und Terassen für Ärtze und Ärztinnen sowie für Pflegerinnen und Pfleger, nicht ausreichend. Ihr zufolge bedarf es spätestens jetzt einer umfassenden gesellschaftlichen Veränderung, in der die Care-Ökonomie ins Zentrum unserer Wirtschaft gerückt wird. Wie das verstehen ist, dazu haben wir Gabriele Winker unsere Fragen gestellt.
"Jetzt erfahren wir alle, wie abhängig wir von der Arbeit von Care-Beschäftigten sind"
L.I.S.A.: Frau Professor Winker, Sie forschen als Arbeitswissenschaftlerin seit Jahren zur gesellschaftlichen Bedeutung von Arbeit und ihrer Organisation als Reproduktionsressource. Vor einigen Jahren haben Sie ein Buch zu einem Tätigkeitsbereich veröffentlicht, der gegenwärtig angesichts der Corona-Epidemie in vielerlei Hinsicht besondere Beachtung gewinnt: der sogenannte Care-Bereich, zu Deutsch: die Sorgearbeit. Sie haben sich damals - 2015 erschien Ihr Buch „Care Revolution“ - für eine Transformationsstrategie ausgesprochen, die – ich zitiere – „eine Gesellschaft anstrebt, die auf Solidarität und Achtsamkeit beruht und in der alle Menschen sich ihren Bedürfnissen gemäß entwickeln können“. Ist die Zeit nun reif für die Care Revolution?
Prof. Winker: Die Zeit dafür ist schon lange reif. Mit unserem Netzwerk Care Revolution sind wir auch lange vor Corona auf große Resonanz bei vielen Sorgearbeitenden gestoßen. Das hängt damit zusammen, dass die meisten Menschen in ihrem Leben Zeiten kennen, in denen sie sich viel um sich oder um andere kümmern und dabei nicht die notwendige Unterstützung erfahren. Es sind viele Eltern, die im neoliberalen Kapitalismus unabhängig von Geschlecht, Zahl der zu betreuenden Kindern und hilfebedürftigen Erwachsenen aufgefordert sind, ihren Lebensunterhalt möglichst in Vollzeit selbst zu erwirtschaften. Es sind aber auch Pflegekräfte in Krankenhäusern und Seniorenheimen, denen kaum die Zeit für ein Gespräch mit ihren Patient_innen oder Bewohner_innen bleibt, da in den Institutionen der Daseinsfürsorge seit Jahren Personalnot herrscht. Es sind auch körperlich eingeschränkte Menschen, die häufig mehr Zeit für die Selbstsorge und eine individuellere, an ihre Bedürfnisse angepasste Unterstützung von Assistenzkräften benötigen. All diese und noch viel mehr Gruppen von Sorgearbeitenden kommen häufig an die Grenzen ihrer Kräfte.
Aber Sie haben Recht, jetzt in der Corona-Pandemie ist insbesondere der Gesundheitsbereich deutlich mehr im Fokus des öffentlichen Interesses. Jetzt erfahren wir alle, wie abhängig wir von der Arbeit insbesondere von Pflegekräften und Ärzt_innen sind. Heute scheint es mir so, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich darin einig ist, dass Gesundheit keine Ware sein soll und Krankenhäuser nicht nach Renditegesichtspunkten geöffnet oder geschlossen werden dürfen. Auch das System der Fallkostenpauschalen, nach denen vor allem technisch aufwändige Operationen Geld einbringen, nicht aber die Pflege, steht jetzt in der Kritik. Die politische Kunst besteht nun darin, uns gegenseitig auch nach Corona und mitten in einer Rezession, in der dann wieder das fehlende Geld zum Hauptargument wird, daran zu erinnern, dass die Arbeitsbedingungen in Gesundheit und Pflege durch mehr Personal deutlich verbessert und die Pflegekräfte auch endlich angemessen entlohnt werden müssen
Das gilt im Übrigen auch für das gesamte Erziehungs- und Bildungssystem. In Zeiten, in denen Schulen und Kitas größtenteils geschlossen sind, spürt die Gesellschaft, wie wichtig diese Bereiche sind. Inzwischen fällt so langsam auch auf, welche enorme Leistung in dieser Pandemie Eltern leisten, die häufig neben ihrem Home-Office den ganzen Tag über ihre Kinder betreuen und damit das Konzept der Kontaktbeschränkung überhaupt erst ermöglichen. Sie sind für Hausaufgabenbetreuung und Freizeitaktivitäten zuständig, machen Mut und trösten. Sie benötigen aktuell sofort, aber auch für die Zukunft finanzielle und zeitliche Ressourcen, um für ihre Nächsten in dem Maß sorgen zu können, wie sie es für richtig halten. Erforderlich für Kinder, Jugendliche und Eltern ist auch nach Corona, die Zahl der Kinder in den Schulklassen deutlich zu verkleinern und mehr Lehrer_innen einzustellen. Auch die Kitas, die derzeit nur für ein Drittel der Kinder unter 3 Jahren einen Platz vorhalten, gilt es schnell weiter auszubauen, da bereits knapp die Hälfte der Eltern einen Bedarf angemeldet hat. Und auch dort fehlt das ausbildete Personal: Der Personalschlüssel, der nach Aussagen der Bertelsmann Stiftung drei Kinder unter drei Jahren pro Erzieher_in nicht übersteigen dürfte, liegt derzeit im bundesdeutschen Durchschnitt bei durchschnittlich 4,2 Kindern.