Selfies von Jugendlichen in coolen Posen zwischen den Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin - solche Bilder erscheinen in einem Blog, das sich Tindercaust nennt. Die Aufnahmen sind mit Titeln beziehungsweise Kommentaren versehen. Wie wirken diese Blogeinträge auf uns? Was sagen sie über den Umgang junger Menschen mit der Geschichte des Nationalsozialismus aus? Wir haben diese und weitere Fragen Dr. Constanze Jaiser, die unter anderem Projekte der Stiftung Denkmal der ermordeten Juden Europas geleitet hat, gestellt. Aktuell ist sie für die Agentur für Bildung - Geschichte, Politik und Medien e.V. tätig, die für das Bildungsportal Lernen aus der Geschichte verantwortlich ist.
"Es gibt relativ wenig Wissen über die NS-Verbrechen"
L.I.S.A.: Frau Dr. Jaiser, zu Ihren Arbeits- bzw. Themenschwerpunkten gehört der Umgang mit Erinnerungskulturen, insbesondere im Zusammenhang mit der Ermordung der europäischen Juden in Konzentrations- und Vernichtungslagern während der Zeit des Nationalsozialismus. Wird Ihre Arbeit zunehmend schwerer, was die Aufrechterhaltung dieser Erinnerung betrifft? Anders gefragt: Lässt das Interesse und damit auch das Wissen über die NS-Verbrechen nach?
Dr. Jaiser: Ich arbeite seit nunmehr zwanzig Jahren in diesem Bereich - zum einen wissenschaftlich, zum anderen in meiner freiberuflichen historisch-politischen Bildungsarbeit mit jungen Leuten. Mein Eindruck ist nicht, dass das Interesse am Thema nachgelassen hat. Allerdings stelle ich häufig fest, dass es relativ wenig Wissen über die NS-Verbrechen gibt. Gesellschaftlich jedoch haben sich die historischen Interessenschwerpunkte durchaus bereits ein gutes Stück verschoben, was sich natürlich auch in der Schule niederschlägt und Jugendliche beeinflusst. Klassenfahrten nach Berlin zum Beispiel umfassen heute eher den Besuch der Gedenkstätte Hohenschönhausen als den der Gedenkstätte Sachsenhausen. Ein Besuch des jüdischen Friedhofs ist eher denkbar als die Begegnung mit heute in Berlin lebenden Juden. Ein Besuch des ehemaligen sogenannten „Zigeunerlagers“ in Berlin-Marzahn oder ein Treffen mit dem Landesverband der deutschen Sinti und Roma wird gar nicht erst erwogen. Ebensowenig übrigens wie eine wie auch immer mit Orten oder Menschen verknüpfte Auseinandersetzung mit der Geschichte unserer polnischen oder anderer europäischer Nachbarn im Zweiten Weltkrieg oder Holocaust. Beim Holocaustdenkmal vorbeizugehen, vielleicht auch den Ort der Information unterhalb des Stelenfeld zu besuchen, ist zwar durchaus ein Programmpunkt, dort aber einen der hervorragenden dreistündigen Workshops zu buchen, dafür scheint die Zeit nicht zu reichen.
Was ich damit sagen will: Geschichtslernen bezieht sich, wie es scheint, derzeit eher auf andere Themen, und es fehlt noch immer ein breiterer Horizont, deutschen Jugendlichen die Ereignisse und Folgen des Nationalsozialismus zu vermitteln. Auch bei Jugendlichen besteht manchmal vorrangiges Interesse, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel zu erleben. Lernen braucht aber Zeit, Erinnern kann ich eigentlich erst, wenn ich etwas darüber weiß; ganz zu schweigen davon, dass eine Beteiligung an lebendiger Erinnerung voraussetzt, dass ich gerade nicht touristisch konsumiere, sondern innehalten müsste, um herauszufinden, was ich erinnern will und kann.