Zimmerer: Aber wer soll diese Bewegung anführen?
Chatzoudis: Macron eher nicht. Der hat meines Erachtens sein Europa-Kapital verspielt.
Zimmerer: Meine Frage war aber nicht, , wer nicht, sondern wer.
Guérot: Ich muss da auch widersprechen. Emmanuel Macron hat in der Financial Times Solidarität für Europa und Änderungen im Wirtschaftssystem gefordert. Der Mensch und nicht die Effizienz habe Vorrang! Und Jean-Claude Juncker hat erklärt, das EU-Budget müsse erhöht werden. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat sich bei den Italienern offiziell für die mangelnde europäische Solidarität zu Beginn der Krise entschuldigt.
Chatzoudis: Ist das nicht alles reine Verlautbarungsrhetorik? Mal sehen, wie ernst das alles gemeint ist. Im Hintergrund arbeiten derweil Blackrock und Co. am Erhalt und Ausbau des Bestehenden.
Guérot: Das bestreite ich nicht. Aber der politische Diskus hat sich deutlich (!) verändert.
Krämer: Nicht in der Bundesregierung, fürchte ich.
Guérot: Absolut! Aber im Glücksfall ist die Krise die Chance, jetzt Dinge durch die europäische Tür zu bekommen, die vorher nicht gingen: Eurobonds, europäische Arbeitslosenversicherung, höheres EU-Budget etc. Und wenn nun Macron, Juncker, von der Leyen - Renzi übrigens auch - die Sprache nun ändern, dürfte das auch in Deutschland Wirkung zeigen. Hoffe ich jedenfalls. Außerdem hat Macron in zwei Jahren Wahlen - er oder Le Pen. Das wird ihn hoffentlich dazu bringen, die soziale Frage nicht den Populisten zu überlassen.
Chatzoudis: Ich bin bei Macron sehr skeptisch. Vor allem nach seinem Umgang mit einer sozialen Bewegung wie den "Gilets Jaunes".
Guérot: Kann man noch nicht beurteilen, finde ich. Er dreht sich gerade. Und die Zahlen, die ich habe, sagen, dass Gilets Jaunes "vorbei" ist. Die Gewerkschaften haben wieder das Ruder in der Hand, und mit denen lässt sich reden, und Macron wird mit denen reden.
Krämer: Interessant, Ihr Optimismus bezüglich Macron. Ich drücke uns die Daumen. Selten sind wir von innenpolitischen Entwicklungen in anderen Ländern stärker abhängig gewesen.
Zimmerer: Und wie sollte die europäische Politik dann aussehen. Wie schaffen wir den Ausstieg aus der Wachstumsideologie und aus dem Raubbaukapitalismus?
Chatzoudis: Es gibt derzeit keine politische Kraft mit Mehrheitsoption, die das Ruder komplett rumreißen könnte.
Zimmerer: Das bedeutet also Untergang?
Chatzoudis: Nein. Netflix.
Krämer: Ich sehe da auch niemanden. Angela Merkel, die große Heldin der Corona-Krise, taugt ja nur zur Nationalheiligen, nicht zur Retterin Europas.
Guérot: Ja, Merkel ist für mich tatsächlich immer noch mehr ein europäisches "Problem" als eine Lösung. Sie ist zu vorsichtig, navigiert, will nichts, keine Ambition, keinen "utopischen Entwurf", wie Adorno sagen würde.
Zimmerer: Wie ich an anderer Stelle schon sagte, wir brauchen ein FridaysForEurope.
Chatzoudis: Eine neue politische Kraft muss aber radikaler sein und eben nicht everybody's darling, wenn sie was verändern soll.
Zimmer: FridaysForFuture ist aber nicht everybody's darling.
Chatzoudis: Das sehe ich anders. Die Qualitätsmedien feiern FFF.
Guérot: Die FridaysForEurope versuche ich ja gerade mit dem European Democracy Lab zu organisieren. Aber ich bräuchte Geld. :) Das Lab ist nämlich ganz schön radikal, wir kämpfen für die europäische Republik. :)
Krämer: Coronabonds müssten ein so großes Volumen haben, dass auch solche intellektuellen Experimente daraus finanziert werden können.
Guérot: Eine Billiarde Anleihe - wie geplant - würde da schon reichen. :)
Chatzoudis: Das ist radikal.
Zimmerer: Was?
Chatzoudis: Europa als Republik denken.
Guérot: Radikal ist - frei nach Hannah Arendt - immer nur das Gute. Denn das Böse wuchert.
Zimmerer: Ok, wir sind mit der Zeit am Ende.
Guérot: Ja, Europa als Republik, das heißt zum Beispiel öffentliche Güter in Europa (Res Publica Europae) gemeinsam zu finanzieren. Wir sind mitten dabei, Europa als Republik zu denken.
Chatzoudis: Infrastruktur neu organisieren. Keine Privatisierungen mehr, viele rückgängig machen.
Zimmerer: Ich stelle fest, über das Globale und das Utopische haben wir heute wieder nicht gesprochen. Nicht untypisch für den europäischen Diskurs.
Krämer: Dennoch eine optimistische Diskussion. Das Globale kommt nach dem Europäischen.
Chatzoudis: Vielen Dank und bis kommenden Montag wieder!
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Ach, wenn sie doch außer roasaroter Gefühligkeit doch auch noch zumindest rudimentärste Fakten im Programm hätte. Dann würde sie auch wissen, dass die Italiener bei 100 Milliarden Nettoaufnahme gerade mal 1,7 Milliarden mehr an Zinsen als Deutschland zahlen müsste. Viel Geld, aber im großen Rad der Billionen die berühmten Peants.
Die Lösung wäre einfach - die EU zahlt die 1,7 Mrd. Zinsdifferenz. Aber Frau Guerot will ja dass das deutsche Volk stattdessen direkt die Haftung für Billionen von Altschulden (der Eliten in Rom) übernimmt und damit zukünftige Generationen in den Schuldenturm führt.
Es ist die selbe traurige Geschichte wir in der Flüchtlingskrise: das böse Deutschland, dass nur 2 Millionen aufgenommen hat und das gute Italien, dass doch 350 000 aufgenommen hat (und diese auch noch mies wier niemand sonst behandelt, auf dass sie ja nach Deutschland abhauen)
Immerhin klappt bei den Italienern die Propaganda ... zumindest bei den eher naiven Gemütern der progressiven Deutschen.
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Das Haushaltsvermögen der Italiener ist mit 125 000 € mehr als doppelt so hoch der Deutschen (47 000). Und nun, gemach, gemach, wird Frau Guerot antworten, dass dies mit der höheren Eigenheimquote in Italien zu tun hat.
RICHTIG! Trotzdem stelle ich eine Frage, die diese gesamte Argumentation auseinanderfliegen läßt.
Warum soll der Deutsche dem Italiener mit einer Eigentumswohnung in Rom für 500.000 € den Lebensunterhalt bezahlen? Ein Deutscher, der veilleicht 1400 netto im Monat hat? Ist es wirklich nicht zumutbar, dass dieser Italiener seine Wohnung verkauft?
Warum - wenn wir schon dabei sind - rufen die Italiener nach unbegrenzter deutscher Haftung, wenn sie doch erstmal ihre eigenen Reichen mit einer Vermögenssteuer belasten könnten?
Warum wehren sie sich gegen den ESM, der am Ende ja nur eine Angleichung der Renten etc. fordert?
Genau, Frau Guerot. Schweigen im (südeuropäischen) Walde. Der Grund ist einfach: das Geschrei der Südländer nach Solidarität ist der Schrei nach deutschem, niederländischen und finnischem Geld, um die eigenen Eliten ja nicht antasten zu müssen.
Kleiner Tip am Ende: gehen sie nach Corona mal durch Paris und versuchen sie in einem der Edelrestaurants 60 € + pro Gericht einen Platz zu bekommen. Das werden sie nicht so einfach schaffen. Das Problem ist, dass all diese Länder das Geld haben, aber leider nur ihre Eliten pampern. So viel zur Solidarität.