L.I.S.A.: Die Vorstellung von einer global agierenden und vernetzten sowie grenzenlos mobilen Wirtschaftselite war und ist seit Jahrzehnten handlungsleitend für zahlreiche nationale Regierungen – Stichwort: Standortdebatte. Demnach dürften beispielsweise Steuern für Spitzenverdiener, auf Vermögen sowie für Unternehmen nicht zu hoch ausfallen, sonst drohe ein nationaler brain drain sowie Kapitalflucht. Wenn man aber nun Ihrer These folgt, nach der Wirtschaftseliten deutlich weniger mobil sind, sondern eher ziemlich sesshaff, könnte man als Regierung daraus entsprechende Schlüsse ziehen. Ist Ihr Buch so gesehen ein Plädoyer für neue Handlungsspielräume für die Politik?
Prof. Hartmann: Ja, das ist es. Die Politik, vor allem in den größeren Nationalstaaten, hat sehr viel größere Handlungsspielräume, als sie unter dem Motto der Alternativlosigkeit oder der „marktkonformen Demokratie“ selbst einräumt. Das gilt sowohl in Hinblick auf die Reichen und Superreichen als auch bezogen auf die großen Unternehmen. US-Bürger – das ist die größte Gruppe unter den Milliardären dieser Welt, gefolgt von den Chinesen und an dritter Stelle den Deutschen – gehen mit ihren Vermögen praktisch nie ins Ausland. Es bringt ihnen steuerlich nämlich nichts. Sie müssten in den USA die Differenz zwischen den dort fälligen Steuern und den in einem Niedrigsteuerland anfallenden nachzahlen. Und selbst wenn sie auf ihre Staatsbürgerschaft verzichten wollten, um Bürger eines Steuerparadieses zu werden, wäre eine „Exit Tax“ von über zwnazig Prozent auf ihr gesamtes Vermögen fällig. Das Prinzip könnte man auch in der EU durchsetzen: Wer Bürger eines Landes ist, zahlt dessen Steuersatz. Dann würde sich ein Wegzug für die deutschen oder französischen Milliardäre, von denen um die dreißig Prozent im Ausland residieren, vor allem in den nahe gelegenen und gleichsprachigen Kantonen der Schweiz, auch nicht mehr lohnen. Bei den Unternehmen ist es zugegebenermaßen komplizierter. Aber auch sie können nicht beliebig Steueroptimierungsprogramme fahren, wenn der Staat entsprechende Gegenmaßnahmen ergreift. Anfang des Jahres zahlten Apple und Google allein in Italien je über 300 Millionen Euro nach, weil ein Steuerhinterziehungsverfahren drohte. Google zahlte auch in Großbritannien über 170 Millionen nach. Amazon versteuert inzwischen sogar alle in Großbritannien anfallenden Gewinne im Land, weil London durch eine Änderung im Steuerrecht ins Ausland verschobene Gewinne mit einem auf 25 Prozent erhöhten Steuersatz belastet. Bei den Firmensitzen ist es noch eindeutiger. Sie lassen sich nicht einmal eben verlegen, weil sie in Strukturen, informelle Beziehungen am Ort, Zulieferer, Ideengeber etc. eingebunden sind. Verließe Google Silicon Valley, würde ihm die ganze Infrastruktur fehlen, zum Beispiel die Universitäten Stanford und Berkeley. Es nützt wenig, Steuern zu sparen, wenn man seine Innovationskraft verliert. Das gilt auch für die Stuttgarter Autobauer mit ihrem Hinterland. Die Politik könnte dementsprechend in der Steuerfrage größeren Druck machen, wenn sie denn wollte.