L.I.S.A.: Ist es überhaupt denkbar, dass sich die arabischen Gesellschaften wie ihre Pendants im Westen entwickeln? Unterliegen wir da nicht einer gewissen Naivität, wenn wir hierzulande glauben, dass mit der Ablösung der alten Machthaber, nun demokratische System erblühen? Welche Rolle spielt die Rechtsordnung, um eine demokratische Verfassung mit Leben zu füllen?
Prof. Rohe: In der Tat werden sich die arabischen Gesellschaften nicht nach dem Bild des Westens formen. Weshalb sollten sie auch? Die europäische Anmaßung einer mission civilisatrice ist zu Recht auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet. Das bedeutet keinesfalls Werterelativismus: Demokratie und Menschenrechte sind heute jedenfalls nach ihrem Geltungsanspruch universal; die UN-Menschenrechtscharta gilt weltweit, auch wenn sie täglich mit Füßen getreten wird. Über Einzelheiten wird es immer Streit geben: Auch in unseren Breiten haben sich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit langsam und in unterschiedlichen Modellen entwickelt. War Deutschland schon ein Rechtsstaat, als es hier – bis vor wenigen Jahrzehnten – noch rechtlich abgesicherte Geschlechterdiskriminierung gab?
So wie sich Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in Europa in Entwicklung entfalten, wird es auch in der arabischen Welt eigene – und vermutlich sehr vielfältige – Entwicklungen geben. Hoffnungen auf kurzfristige massive Verbesserungen waren auch hier sicherlich naiv. Dennoch zeigt sich ein – noch uneinheitlicher – Trend zu allmählicher Entwicklung in Richtung mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in einigen Staaten. Und eine stabile, korruptionsfreie und breit konsentierte Rechtsordnung mit wirksamen Schutzgarantien gegen Willkür und Menschenrechtsverletzungen spielt hierbei eine zentrale Rolle; sie wird nicht innerhalb weniger Monate entstehen.
Allerdings ist auch zu befürchten, dass in anderen Teilen der arabischen Welt wie Syrien noch viel Blut fließen wird, bis die Diktatoren gestürzt werden oder begreifen, dass ihr System am Ende ist. Spannend dürfte die Entwicklung auf der arabischen Halbinsel werden, wo sehr repressive Regimes wie in Bahrain oder Saudi-Arabien mit Geld und Gewalt versuchen, den status quo zu erhalten – erstaunlich wenig kritisiert von manchen Gralshütern demokratischer Freiheiten.
Im übrigen: So wichtig Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind – die Menschen der Region sind die permanenten Demütigungen leid – so wichtig sind stabile wirtschaftliche Verhältnisse, welche den Menschen vor Ort eine (bescheidene) Existenzgrundlage garantieren. Verschlechterungen in diesem Bereich, wie sie sich bereits abzeichnen, sind tödlich für das noch zarte Pflänzchen demokratischer Rechtsstaatlichkeit. Gerade hier kann Europa wirksam helfen – auch wenn es mehr kostet als einige Konferenzen zu bürgerlichen Freiheiten: Nachhaltige Investitionen vor Ort und Öffnung der eigenen Märkte für Produkte aus den betroffenen Staaten. Wenn wir es ernst meinen, müssen wir hier Flagge zeigen.