L.I.S.A.: Der Gang durch die Ausstellung ist lebensbiographisch angelegt und orientiert sich an Themen, mit denen sich Hannah Arendt vor allem gesellschaftspolitisch beschäftigt hat - angefangen mit der Biographie der Salongastgeberin Rahel Varnhagen in der Zeit Goethes als Beispiel geglückter jüdischer Emanzipation, dann Hannah Arendts öffentliche Auseinandersetzungen mit dem Zionismus, mit dem Kolonialismus, mit dem Holocaust, mit dem Eichmann-Prozess und der Entnazifizierung in der Nachkriegszeit, bis hin zu ihren Kontroversen über Rassismus in den USA, über ihre Bewertung der 68er-Studentenbewegung sowie des Feminismus. Hannah Arendt erscheint Besuchern der Ausstellung so vornehmlich als eine politische Frau, weniger als Philosophin. Oder war das bei ihr nicht voneinander zu trennen? Wollten sie möglicherweise eine politische Philosophin zeigen?
Dr. Boll: Ja genau: die politische Geschichte mit den Themen, die Sie ansprechen, hat uns vor allem interessiert. Wir wollten keine klassische biographische Ausstellung mit Fokus auf dem Privaten machen, sondern eine Intellectual History vorstellen. Uns interessierte die Verwobenheit der Person mit der Zeitgeschichte. Und hierbei auch mehr die öffentliche Intellektuelle Hannah Arendt als die akademische Theoretikerin. Die meisten Themen, zu denen sie sich geäußert hat, sind zugleich Teil ihrer eigenen Lebensgeschichte. So entstand die Idee, Hannah Arendt ins Zentrum einer Ausstellung über das 20. Jahrhundert zu stellen.
Denken Sie an den Essay „Wir Flüchtlinge“, den sie 1943 nach ihrer Flucht vor den Nazis in New York veröffentlichte, in den ihre persönlichen Erfahrungen des Exils ebenso wie die von Freunden und Verwandten einflossen. Der Essay ist dann 2016, inmitten der Flüchtlingskrise, in hoher Auflage neu erschienen. In den Kontext gehört auch das Affidavit, das man in der Ausstellung sieht. Das ist ein Ersatzdokument für einen Ausweis, das der Staat New York Hannah Arendt 1949 ausstellte, als sie das erste Mal nach dem Krieg wieder nach Deutschland reiste. Das Dokument vermerkt den Geburtsort, Adresse und Ehestand, es gibt Auskunft über die verschiedenen Stationen des Exils, über Arendts Staatenlosigkeit und dass sie die amerikanische Staatsbürgerschaft beantragt hat. Also ein ganzes Leben verdichtet in einem einzigen Dokument, ohne dass sie sich nicht hätte frei bewegen können. Man versteht so besser, warum ihre politische Theorie um das Problem der Staatenlosigkeit kreiste und warum sie das „Recht, Rechte zu haben“ zu ersten Menschenrecht erklärte.
Der Grund für diese erste Reise nach dem Krieg war übrigens Arendts Arbeit für die Jewish Cultural Reconstruction (JCR), ein eher unbekanntes Kapitel ihrer Vita. Sie war 1949 in New York Geschäftsführerin dieser Organisation geworden. Aufgabe der JCR war es, von den Nazis geraubtes jüdisches Kulturgut ausfindig zu machen und in die USA und nach Israel zu überführen. Arendt erstellte Listen geraubter Bücher und führte Verhandlungen mit den Institutionen vor Ort über deren Rückgabe. Sie betrieb sozusagen schon früh Provenienzforschung. Sie arbeitete dazu mit dem in Berlin geborenen Religionsphilosophen Gershom Scholem zusammen, der nach dem Krieg in der Sammelstelle der U.S. Army für geraubte Bücher in Offenbach stationiert war. Gemeinsam bemühten sie sich darum, die Bibliothek des Philosophen Hermann Cohen an die Universitätsbibliothek in Jerusalem zu überführen.
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