Das Protokoll der Magistratssitzung vom 14. August 1908, in der über den Ankauf der Dr. Bockenheimer´chen Klinik beraten wurde, weist folgende Passage aus:
“1. Der Magistrat lehnt den Erwerb der genannten Klinik ab.
2. Nachricht an die Anstalts-Deputation mit dem Auftrage, über Herstellung der in Aussicht genommenen Rekonvaleszenten-Anstalt in der Nähe des Stadtwaldes alsbald Vorlage zu machen.” (ISG, MA U 863)
Noch am gleichen Tag gibt Oberbürgermeister Adickes bei seiner Schreibstube einen Brief in Auftrag, der sich an den die Verhandlungen führenden Sohn von Jacob Herman Bockenheimer, Prof. Dr. Philipp Bockenheimer, der sich in Frankfurt aufhielt, richten soll:
“Mit Bezug auf die frühere Korrespondenz teilen wir ergebenst mit, daß wir nach Prüfung der Sachlage auf den Ankauf des Grundstücks Gutzkowstraße 53 nicht reflektieren.” (ISG, MA U 863)
Diese Entscheidung war der Kommission der Vereinigten Krankenkassen zu Frankfurt nicht bekannt, als sie sich am 25. August 1908 in einem Schreiben an den Magistrat der Stadt wendet, in dem es heißt:
“Wir Krankenkassen haben schon deshalb ein sehr großes Interesse an der Erhaltung dieser Anstalt, weil es in den letzten Jahren zur Zeit des hohen Krankenstandes gar nicht mehr möglich war, alle der Krankenhauspflege bedürftigen Patienten unterzubringen. Um wieviel fühlbarer aber müsste dieser Mangel erst dann zutage treten, wenn die Dr. Bockenheimersche Klinik mit ihren 100 Betten geschlossen wäre.”
Das Schreiben stellt dann fest, dass die Einrichtung der Klinik “nicht so ganz der Neuzeit entspreche”, empfiehlt sie aber der Weiterverwendung oder der Einrichtung einer “Rekonvalescentenanstalt”, besonders wegen “des dazugehörigen großen und schönen Gartens.” Die Kommission habe sich mit der Frage beschäftigt, die Klinik kassenseits anzukaufen und den Betrieb aufrecht zu erhalten. “Leider konnte diese Frage angesichts der schlechten Finanzlage der Frankfurter Krankenkassen keine Lösung finden.” (ISG, MA U 863)
Auch dieser Appell konnte den Entschluss der Stadt gegenüber dem verdienten, nun todkranken Bürger und Arzt nicht mehr beeinflussen. Noch am 8.11.1906 war zum Anlass des vierzigjährigen Jubiläums der Klinik Dr. Bockenheimer in der Kleinen Presse zu lesen gewesen:
“Seit dem Jahre 1866 werden von Dr. Bockenheimer, unter Mitwirkung seiner Assistenten, jährlich Jahresberichte herausgegeben, welche neben einer Statistik auch eine Reihe bedeutungsvoller wissenschaftlicher Abhandlungen enthalten. Aus der Klinik sind eine Reihe namhafter Aerzte hervorgegangen, welche in den Wegen ihres Lehrers wandeln. Möge es Dr. Bockenheimer noch lange vergönnt sein, seine segenbringende Tätigkeit zum Besten der leidenden Menschheit weiterzuführen.” (ISG, S2-1403)
Am 29. September 1908 wurde die Klinik geschlossen - für Jacob Hermann Bockenheimer gleichsam der Zusammenbruch seines Lebenswerks. Aus heutiger Sicht erscheint die damalige Entscheidung des Magistrats der Stadt nicht plausibel, war der älteste Teil des Klinikgebäudes zwar über 25 Jahre alt, jedoch war die Einrichtung der Klinik technisch und medizinisch im Wesentlichen auf dem neuesten Stand gehalten worden. Zum vierzigjährigen Bestehen der Klinik hatte die Frankfurter Kleine Presse im November 1906 geschrieben: “Der von F. und M. Lautenschläger in Berlin eingerichtete Operationssaal entspricht den modernsten Anforderungen an die Asepsis. Von anderen Einrichtungen sei noch die Anlegung einer Dampfwäscherei und einer Wasserdampf - Niederdruckheizung erwähnt.” (ISG, S2-1403)
Die 1887 gegründete Firma F&M Lautenschläger gilt noch heute als einer der renommiertesten Spezialisten für Sterilisations- und Desinfektionstechnik.
Am 16. Oktober 1908 informierte Dr. Philipp Bockenheimer den Magistrat der Stadt Frankfurt vom Ableben seines Vaters. Die Frankfurter Zeitung vom 16. Oktober 1908 brachte diese Meldung:
“Gestern Abend ist nach längerer Krankheit Geheimer Sanitätsrat Dr. Jacob Hermann Bockenheimer im 71. Lebensjahr gestorben. Mit ihm ist eine der markantesten Persönlichkeiten des Frankfurter Aerztestandes dahingegangen, ein Mann von hoher wissenschaftlicher Bildung, ein geschickter Chirurg und geschätzter Arzt. Er war ein kühner und erfolgreicher Operateur, den große Willenskraft und Ausdauer auszeichneten. Wie wenige Menschen verstand Dr. Bockenheimer seinen Körper zu stählen; das verlieh ihm die Fähigkeiten und Kraft, eine riesige ärztliche Arbeit zu leisten.” (a.a.O.)
Über die Gründe für das Scheitern des Ankaufs der Dr. Bockenheimer´schen Klinik durch die Stadt Frankfurt gab es im Frühjahr des Jahres 1909 eine durch Bürgermeister Grimm und den Stadtverordneten Graef ausgelöste Auseinandersetzung. Prof. Dr. Philipp Bockenheimer wandte sich am 22. März 1909 mit einer »faktischen Berichtigung« der Äußerungen des Bürgermeisters in der Stadtverordnetenversammlung an Bürgermeister Grimm.
Darin schreibt er:
“Die Klinik ist mit ihrem Gesamtinventar noch in vollem Betriebe zu Lebzeiten des Geh.-San.-Rats Dr. Bockenheimer für 1.200.000 M der Stadt angeboten worden. Fraglos wäre dieser Preis bei weiteren Verhandlungen natürlich noch um 1/3 herabgedrückt worden, so dass also der Ankauf des in vollem Betriebe befindlichen Krankenhauses für 3/4 Millionen Mark durchaus nicht zu teuer bezeichnet werden konnte. Eine weitere Verhandlung mit der Stadt wurde jedoch dadurch unmöglich gemacht, dass diesem Angebot ein Gegengebot der Stadt von 400.000 M (unter dem jetzt aufgenommenen Taxwert) entgegenstand, wobei gleich von Seiten der Stadt bemerkt wurde, dass nur auf die Ländereien Wert gelegt würde, während die ganzen Gebäude und speziell ihre Verwendbarkeit als Klinik, Rekonvalescentenheim, vollständig ausgeschlossen sei, und daher auch kein höheres Angebot gemacht werden könne. Unter diesen Umständen hat Herr Geheimrat Bockenheimer, der über dieses ganze Verhalten ihm gegenüber sehr entrüstet war, von jeden weiteren Verhandlungen mit der Stadt abgesehen. (...)
Trotz des eben skizzierten Verhaltens der Stadt gegenüber dem verstorbenen Geheimrat Dr. B. haben die Erben sich noch einmal an die Stadt gewandt und ihr das Vorverkaufsrecht angeboten zum Preise von M 7.- pro Quadratfuss, wobei die Gebäude nicht in Anrechnung gebracht werden sollten. (...)
Die Hinterbliebenen haben durchaus im Sinne ihres verstorbenen Vaters, der stets in der uneigennützigsten Weise seine Kraft und seine Mittel in den Dienst der Frankfurter Bürgerschaft gestellt hat, zu handeln versucht, indem sie auch nach dem Tode die Liegenschaften zu einem für die Stadt annehmbaren Preise anboten, möchten nun aber nicht in den Verdacht kommen, als ob sie durch eine enorm hohe Preisforderung der Stadt jede weiteren Verhandlungen unmöglich gemacht hätten.
Im übrigen erlaube ich mir Ihnen noch mitzuteilen, dass die noch sehr guten und für verschiedene Zwecke der Kommune verwendbaren Baulichkeiten niedergerissen werden, um eine Parzellierung des Terrains vorzunehmen, falls eine Einigung nicht doch noch zustande kommt.” (ISG, MA U 863)
Eine weitere Verhandlung kam nicht zustande, die Klinik wurde abgerissen, das Gelände neu parzelliert und verkauft. Von dem Erlös war auch die Hypothek von 1880 in Höhe von MK 100.000 zu tilgen, die noch auf dem Grundstück lag. Der genaue Zeitpunkt des Abrisses ließ sich nicht feststellen, da sich weder im Stadtarchiv, noch im Familienarchiv ein entsprechender Hinweis finden ließ und die Grundbuchakten von 1909/1910 nicht mehr erhalten sind. Ein eingrenzender Hinweis ist die Auskunft des Amtes für Bodenmanagement in Limburg, dass die Liegenschaft nach den dort vorliegenden Katasterunterlagen vom 11.8.1910 neu parzelliert war.
Über die Beisetzung des Geheimen Sanitätsrats Dr. Bockenheimer am 18. Oktober 1908 berichteten die Frankfurter Nachrichten vom 19.10.1908:
“Ein weit über die Grenzen Frankfurts hinaus bekannter Arzt wurde gestern schlicht und einfach, ganz wie es seinem Wesen und Charakter entsprach, zur ewigen Ruhe gebettet. Es waren die sterblichen Überreste Dr. Bockenheimers. Die Beerdigung erfolgte vom Trauerhause in der Bockenheimer Landstraße, von wo sich um 1/2 9 Uhr vormittags ein langer Trauerkondukt in Bewegung setzte. An dem mit Chrysanthemen geschmückten Grab auf dem Frankfurter Friedhof sprach Direktor Wolf von der Liebfrauenkirche und führte etwa folgendes im Anschluß an die Bibelworte: „Selig sind die Toten, die im Herrn sterben“ aus: Unter den großen Männern, die sich um die Vaterstadt verdient machten, nimmt Geh. Sanitätsrat Dr. Bockenheimer eine der hervorragendsten Stellen ein. Er wurde am Weihnachtsfeste 1837 als Sohn frommer katholischer Eltern geboren und widmete sich dem ärztlichen Beruf. 1864 ließ er sich als praktischer Arzt in Frankfurt nieder. Durch den Umfang seines Wissens und die neue Methode, deren er sich im Dienste bei den Kranken bediente, sowie durch seine Heilerfolge erlangte er einen großen Ruf. Nach 1866 gründete er die bekannte Dr. Bockenheimersche Klinik, in der Tausende liebevolle Pflege und Genesung fanden. Zur besonderen Freude der katholischen Gemeinde ließ er seine Patienten von katholischen Schwestern pflegen. Groß war die Teilnahme, die die Stadt an dem freudigen Ereignis seines 70. Geburtstags bekundete. Infolge Ueberanstrengung mußte er nach 42jähriger Tätigkeit die Klinik aufgeben. Das allerschmerzlichste, das ihn traf, war die Tatsache, daß die Klinik aufgelöst werden mußte. 18 Jahre lang hat der Verstorbene der katholischen Gemeindeverwaltung angehört.” (ISG, MA U 863)
Die »Statistischen Mitteilungen« enden beim Jahrgang 1908 mit bloßen Aufzählungen und mit einigen Tabellen, und damit endet auch die chirurgische Klinik Dr. Bockenheimer. In diesem letzten Bericht findet sich kein anerkennender Nachruf auf den Gründer und Chefarzt der Klinik, kein Wort des Dankes an die Assistenten, die Dernbacher Schwestern oder die Pfleger. Im Jahresbericht der Ärztlichen Vereinigung zu Frankfurt a/M für 1908 ist zwar in der tabellarischen Übersicht behandelter Erkrankungen noch die Dr. Bockenheimer ́sche Klinik ausgeworfen, aber es sind die dort behandelten Fälle nicht mehr eingetragen, obwohl die Klinik ja zweifellos bis September in vollem Betrieb war.
Die Frankfurter Blätter für Familiengeschichte (FB1) schrieben zum Tod von Jacob Hermann Bockenheimer:
“Unvergessen aber wird seine segensreiche und selbstlose Wirksamkeit zum Wohle der leidenden Menschheit bleiben, unvergessen wird er weiter leben in den Herzen seiner zahlreichen Verehrer, denen er nicht nur beruflicher ärztlicher Beistand in Krankheitsfällen war, sondern bei denen er als wahrer Freund und edler Mensch die Krankenstube betrat, schon durch den Zauber seiner Persönlichkeit Hoffnung und Zuversicht erweckte. - Requiescat in pace!”
Was blieb vom Klinikgebäude? Im April 2013 entstand im Hinterhof Gutzkowstraße 49 ein Problem: ein mächtiger Götterbaum hatte teilweise die Grenzwand zum westlichen Nachbarn eingedrückt und dahinter lag in dessen Hof ein Keller. Der Baum wurde gefällt, sein gewaltiger Stumpf abgefräst, und es wurden zwei Mauern freigelegt, auf die sich der Baum gesetzt hatte. Die eine Mauer ist aus Wechsellagen von Sandsteinblöcken (45x20x42 cm) und Backsteinen aufgebaut und verläuft parallel zur Stegstraße in 16 m Abstand zu ihr. Die zweite Mauer verläuft rechtwinklig dazu, parallel zur Gutzkowstraße in 21 m Abstand zu ihr. Ihre Besonderheit: Sie ist 42 cm breit und ebenfalls aus Wechsellagen von Sandsteinblöcken und Backsteinen aufgebaut. Sie ist mit einer stark erodierten flachen Betonschicht bedeckt, hat aber im Süden angrenzend einen 13 cm breiten "Luftcanal", über den im Süden mit Brückenziegeln eine Wand aus einlagigem Backsteinmauerwerk angeschlossen ist. Oberhalb der Krone dieser Mauer wurde zur Gutzkowstraße hin (N) eine Schicht schwarzen Gussasphalts sichtbar. Der Befund vor Ort stimmt erstaunlich mit dem Bericht von Jacob Hermann Bockenheimer über Anlage und Ausstattung des Altbaus der Klinik von 1881 überein. Die Maße des Altbaus der Klinik sind überliefert, die Veränderungen von Grundstücksgrenzen und Baufluchtlinien an beiden Straßen zwischen 1882 und heute sind nicht zweifelsfrei zu ermitteln. So war die Lage des ehemaligen Klinikgebäudes in Bezug zu den heutigen Gebäuden nicht präzise festzulegen. Der Abriss des Klinikgebäudes und die Neuparzellierung sind auf 1909/1910 einzugrenzen, aber nicht direkt belegt.