L.I.S.A.: Schließen wir an einen Aspekt in der Ausgangsfrage an: Wenn Sie sich die aktuelle Kriegssituation im Raum zwischen Syrien, dem Irak, dem Iran und der Türkei anschauen, die für Laien nicht zuletzt durch Unübersichtlichkeit und Unverständnis gekennzeichnet ist, kann da ein Blick zurück in die Geschichte helfen, besser zu verstehen?
Dr. Alkan: Es ist wichtig, sich die Entwicklungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert in der Region anzuschauen, um zu verstehen, warum der sogenannte Nahe Osten schon immer ein Krisenherd war. Die osmanische Herrschaft endete 1918 mit der Niederlage des Imperiums und seiner endgültigen Auflösung am Ende des 1. Weltkrieges. Die Sieger, Großbritannien und Frankreich, teilten die arabischen Provinzen ihren jeweiligen Interessenlagen entsprechend auf. Die Gebiete des heutigen Syrien, Libanon, Jordanien, Palästina und Israel waren geografisch als „Großsyrien“ bekannt; die Grenzen waren künstlich geschaffen und der Bevölkerung gegen ihren Willen aufgezwungen wurden. Ziel war es, aus der religiösen und ethnischen Vielfalt Nutzen zu ziehen, und das Prinzip „Teile und herrsche“ anzuwenden. Entsprechend dem 14-Punkte-Programm von Woodrow Wilson, dem damaligen Präsidenten der USA, konnten die alten osmanischen Provinzen nicht geradeheraus kolonisiert werden; daher wurden sie in als „Mandatsgebiete“ bezeichnete Regionen zergliedert, die von einem „Allgemeinen Verband der Nationen“ – dem zukünftigen Völkerbund– zugeordnet wurden (Wilsons 14. Punkt). Die Mandate wurden an die Sieger vergeben, um sicherzustellen, dass die Regionen, über die sie herrschten, einen Zustand der Selbstbestimmung erreichen und unabhängig werden würden. Die westlichen Mächte sahen sich selbst als die Quelle von Aufklärung und moralischer Führung, als die Überbringer der „Fackel der Zivilisation“, die sie jenen Regionen brachten, die sie kolonisierten. Frankreich hatte allemal ein idealisiertes Selbstbild von sich als „zivilisierter“ Nation, im Gegensatz zum „unzivilisierten“ nichtstaatlichen Syrien, also einer Gesellschaft, die durch Religionen, Sekten und ethnische Gruppen – sich gegenseitig bekämpfende „Fanatiker“ und „Wilde“ – unterteilt war. Sie mussten von den Franzosen diszipliniert werden.
Die Entscheidungen, die Großbritannien und Frankreich in Bezug auf die Teilung des Nahen Ostens bei der Konferenz von San Remo im Jahre 1920 trafen, besiegelten das Schicksal der dort lebenden Menschen. In den zehn Jahren danach vollzogen Großbritannien und Frankreich eine willkürliche Teilung der Bevölkerung des Nahen Ostens. Frankreich ging einen Schritt weiter und schuf halb-autonome Provinzen unter einer Nationalregierung in Syrien. Selbstbestimmung und Unabhängigkeit wurden ausgeschlossen, beide Länder zogen neue künstliche Grenzen und schufen gesellschaftliche Hürden, die langfristig regionale Brüche hervorriefen. Was Wilson für die Nicht-Türken unter osmanischer Herrschaft als „zuverlässige Sicherheit des Lebens und völlig ungestörte Gelegenheit zur selbstständigen Entwicklung“ (12. Punkt) vorgesehen hatte, wurde für die Araber nicht realisiert. San Remo war ein Einschnitt in der Geschichte des Nahen Ostens. Beide Staaten bestimmten, wie die Mandatsgebiete auszusehen hatten. Da sie in Bezug auf den Grenzverlauf nicht einer Meinung waren, überließen die Franzosen Palästina und Mosul den Briten und erhielten dafür ein Viertel des Öls aus Mosul.
Großsyrien war eine Region, deren Bewohner mehrheitlich Araber waren, und panarabischer Nationalismus war die dominante Ideologie, besonders unter den Sunniten. Der lokale und politische Partikularismus war für die Franzosen eine willkommene Gelegenheit, Syrien zu teilen und es entsprechend ihrer Interessen neu zu gestalten. Sie behaupteten, durch die Hervorhebung der gesellschaftlichen Unterschiede den politischen Gegebenheiten und Wünschen des Volkes nachzukommen. Diese Vorstellung passte zu ihrem Wunsch, den arabischen Nationalismus zu schwächen und sich den frankophilen Minderheiten anzunähern, um die französische Hegemonie zu festigen. Die Strategie sah vor, zuerst Verwaltungseinheiten in Syrien aufzubauen, um nationalistische Gefühle und Bewegungen unterdrücken zu können, und dann eine lokale Marionettenregierung zu errichten, die die französische Herrschaft unterstützen würde.
Nachdem Frankreich Damaskus im Juli 1920 besetzte, wurde Syrien in fünf Teile geteilt: 1. Großlibanon, das die wichtigen Städte Tripolis, Beirut und Sayda (Sidon) umfasste; 2. Der syrische Staat mit Aleppo, Hama, Homs, Damaskus; 3. Dschebel ad-Duruz („Gebirge der Drusen“); 4. der Regierungsbezirk Latakia; und 5. Sandschak/Provinzverwaltung Alexandrette (Iskenderun) bzw. die heutige türkische Provinz Hatay, das zwar theoretisch Teil von Syrien war, aber in der Praxis über einen besonderen Verwaltungsstatus verfügte. Zwei Jahre nach der Besatzung von Damaskus wurde das Mandat über Syrien und Libanon an Frankreich übergeben. Sogar noch bevor dieses Mandat am 23. Oktober 1923 wirksam wurde, hatte Frankreich schon Vorkehrungen getroffen, die Grenzen so zu ziehen, dass der Völkerbund die Errichtung der dortigen französischen Herrschaft nicht würde rückgängig machen können.
Der erste Schritt in diesem Teilungsprozess war die Gründung von Großlibanon. Der heutige Libanon mit seinen derzeitigen Grenzen war niemals ein Staat, auch keine geographische Region, sondern er war seit dem 16. Jahrhundert Teil des Osmanischen Reiches. Die Bewohner waren christlichen Maroniten, Drusen, Schiiten, Sunniten und andere Gruppierungen wie Griechisch-Orthodoxe und Katholiken. Die künstliche regionale und ethnische Teilung Syriens war das Resultat einer klassischen kolonialen Politik des „Teile und herrsche“. Nachdem die Staaten Aleppo und Damaskus gegründet wurden, wurden sie von Statthaltern regiert, die von der lokalen Bevölkerung ernannt und von den französischen Beratern unterstützt wurden. Hatay, dessen Einwohner Türken waren, war rechtlichhauptsächlich Teil von Aleppo, aber faktisch war es autonom. Frankreich ging einen Schritt weiter und betonte nachdrücklich die Differenzen der regional kompakten Minderheiten der Nusairier und Drusen. Zu dieser Zeit begann Frankreich, die Nusairier „Alawiten“ (Alaouite) zu nennen. Der sunnitische arabische Nationalismus bedrohte die französischen Interessen, die Christen und eben diese heterodoxen muslimischen Gemeinschaften. Daher musste Frankreich freundschaftlichen Umgang mit diesen zwei Völkern hegen. Das Gebirge der Drusen südlich von Damaskus war im Jahre 1922 mehrheitlich von Drusen bewohnt, und Frankreich hatte einen Drusenstaat mit eigenem Gouverneur und einer gewählten Versammlung unter französischer Amtsgewalt bekanntgegeben. Auch die gebirgige Region Latakia, in der die Alawiten einen großen Teil der Bevölkerung stellten, wurde zu einer separaten Verwaltungseinheit, die „Alawitenstaat“ genannt wurde.
Die separatistische und partikularistische Propaganda Frankreichs, die geographische, religiöse und soziale Differenzen hervorhob, hatte die Identität einer Minderheit bestärkt. Dies beeinflusste Syriens Politik noch lange nach dem französischen Mandat auf negative Weise. Diese Strategie, die beinahe während der gesamten Mandatszeit Anwendung fand, begrenzte die Reichweite und den Einfluss der arabischen nationalistischen Bewegung. Nachdem Frankreich erfolgreich dafür gesorgt hatte, dass der aufkommende arabische Nationalismus jenen Gebieten, in denen die Minderheiten gemeinsam lebten, fern blieb, verhinderte es außerdem dessen Einfluss in der unmittelbaren Umgebung von Städten wie Damaskus, Aleppo, Hama und Homs.
Die Franzosen versäumten es, die Bestimmungen des Völkerbundes einzuhalten. Sie vermieden es vorsätzlich, Leute auszubilden, um aus ihnen fähige Staatsmänner zu machen, die das Land würden regieren können. Die Tatsache, dass Syrien während der Mandatsregierung mehre Male in Regionen und Unterregionen geteilt war, unterband die Herausbildung einer Verwaltungsklasse, die gemeinsam agierte. Als die letzten französischen Soldaten Syrien im April 1946 verließen, war das größte andauernde Hemmnis einer politischen Einheit im unabhängigen Syrien ein starker Regionalismus und sogar Lokalismus. Dazu kam, dass sich die verschiedenen politischen Führer in Syrien seit dem Ende der Mandatsregierungen weigerten, eine gemeinsame Vision einer arabischen Einheit zu verfolgen. Sie schwankten zwischen syrischem Nationalismus, einer panarabischen Union und ihren eigenen Interessen. Der wohl größte Gegensatz bestand zwischen der Idee einer politischen Einheit, die alle Arabisch sprechenden und der arabischen Kultur angehörigen Menschen vereinte, und lokalen bzw. regionalen Interessen. Trotz seiner Unabhängigkeit ab dem Jahre 1946 war Syrien weit davon entfernt, ein Nationalstaat zu sein, und verfügte über keine überlebensfähige politische Führung.
Syriens gegenwärtiger Zustand hat seine Ursache in der britischen und französischen kontraproduktiven Politik sowie in ihrer Nachlässigkeit im Einhalten von Vorschriften für das Mandat, die vom Völkerbund vorgegeben worden waren. Aufgrund der schwachen Strukturen, die geschaffen wurden, leidet die gesamte Region bis heute unter ungelösten Problemen. Anstatt die Staaten, die sie in Großsyrien – Syrien, Libanon, Palästina, Israel und Jordanien – selbst geschaffen hatten, zu unterstützen, gefährdeten sie die Existenz dieser Staaten, deren Grenzen ohnehin schon problematisch waren. Man kann sagen, dass die imperialistische Politik Großbritanniens und Frankreichs die Hauptursache für die andauernden Kriege, Zerwürfnisse und Probleme im Nahen Osten ist. Die Saat der Zwietracht, die Frankreich in Syrien aussäte, wurde zur Grundlage eines komplexen regionalen Problems, das in konstanten Spannungen und Blutvergießen resultierte.
Geschichte ist, wie es der britische Historiker Carr ausgedrückt hat, „ein unendlicher Dialog zwischen Gegenwart und Vergangenheit.“ Nur durch diesen Dialog können wir die Ursachen der Probleme analysieren und Lösungen finden. Und nur durch einen konstruktiven Meinungsaustausch zwischen den Kriegsparteien, auch wenn dies momentan schier unmöglich erscheint, kann aus uns aus der momentanen Lage in jener Region herausbringen. Dazu gehört, sich die Entscheidungsträger vorübergehend in die Lage ihres Feindes hineinversetzen und sich dessen Handlungsoptionen und gerechtfertigte Interessen an politischer und wirtschaftlicher Sicherheit vor Augen führen. Der Blick in die Geschichte hilft uns zu sehen, dass die verschiedenen Ethnien und Konfessionen immer dann am besten lebten, wenn sie ihre Gemeinsamkeiten über ihre Konflikte stellten und Lösungen für Probleme fanden, die allen zugute kamen. Kriegerische Auseinandersetzungen, das zeigt die Geschichte, schaffen langfristig mehr Probleme als sie zu lösen vorgeben. Der Sieger von heute kann der Verlierer von morgen sein. Heute sehen wir in Syrien, wie der Bürgerkrieg auf allen Seiten Verlierer hervorbringt. Letztendlich geht es darum, dass alle Menschen, ohne Vorurteile bezüglich der Religion, Ideologie oder Hautfarbe, zusammenleben. Es wäre zu schade, wenn wir diese Gelegenheit verpassen und noch mehr Blutvergießen verursachen um unsere engstirnigen Ziele zu verfolgen.
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Ich bin selber alawit und kann nur mit dem Kopf schütteln. Dieses Interview sollte gelöscht werden um weniger Hass zu verbreiten.
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anbei möchte ich anmerken, dass sie einige richtige Informationen in diesem Beitrag befinden, jedoch auch SEHR VIEL falsches über die Alawiten. Eine Frau zu sein ist weder eine Bestrafung noch schlecht und Frauen sind den Männern mindestens gleichgestellt. (Man sagt auch: „Unter den Füßen der Mutter (ist eine Frau, das versteht sich doch von selbst) liegt das Paradies.“
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ich würde ihnen folgenden Artikel von Frank Nordhausen nahe legen -->> https://www.berliner-zeitung.de/kultur/syrien-konflikt--unser-gott-heisst-baschar--6035636
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Deutschland knüpft mit der Unterstützung dieser Demagogen an die Tradition des Herrn Max von Oppenheim (El Dschihad), der Reichswehr in Zossen/Wühnsdorf und der 5. Moschee in München (Johnson) an. Es wäre doch mal schön, wenn sich die Gerda Henkel Stiftung mit dieser Historie und der Rolle des Auswärtigen Amtes mit ihrer neuen Kulturbringerin Michelle Müntefering beschäftigt. Auch in Europa wurden der Balkan und die Ukraine von Ustasha, UCK und OUN "befreit" (mit dem Beiwerk der tanzenden Studenten).
Der Marshallplan MIT Afrika wartet schon, das Kapital frisst sich durch.
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Selda
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Jahr einige Wochen in Tarsus/Türkei. Sie respektieren meine Religion. Nur die alawitsche Beerdigung hat mir - als Frau - nicht gefallen. Da gibt es noch viel zu "reformieren".
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sehr erhellender Beitrag. Weiter so und alles Gute.
Wilfried und Silke