Die Debatte um die eine richtige Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ist nicht neu. Kann sie auch nicht sein, wenn man aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive davon ausgeht, dass Geschichte ein Aushandlungsprozess ist, der einem ständigen Wandel unterliegt. Dem steht gegenüber, dass jenseits der historischen Forschung verschiedene gesellschaftliche Akteure ein Interesse daran haben, bestimmte Geschichtsbilder und Erinnerungen festzuschreiben. Wie sehr gegenwärtig Geschichtspolitik bzw. Erinnerungspolitik betrieben wird, konnte man in den Debatten rund um die Resolution des Europäischen Parlaments zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg vom vergangenen September sowie zuletzt im Zuge der Auseinandersetzungen um die Befreiung von Auschwitz erleben. Die Osteuropahistorikerin Prof. Dr. Anke Hilbrenner und der Historiker Prof. Dr. Alexey Miller haben uns dazu bereits Interviews gegeben. Wir setzen nun diese Debatte mit einem Interview mit dem Historiker Prof. Dr. Jost Dülffer fort, den wir vor allem um eine historische Einbettung des Zweiten Weltkriegs jenseits von Geschichts- und Erinnerungspolitik gebeten haben.
"Es gibt keine gesamteuropäische Erinnerung"
L.I.S.A.: Herr Professor Dülffer, Sie haben lange zu Entstehung, Verlauf und den Folgen des Zweiten Weltkriegs geforscht. 80 Jahre nach seinem Beginn wird wieder darum gerungen, wie an diesen Krieg zu erinnern ist. Einen neuen Anstoß in dieser Debatte gab im September vergangenen Jahres eine Resolution des Europäischen Parlaments, in der die Unterzeichnerstaaten sich für eine Neuausrichtung des Gedenkens an diesen Krieg, seine Verursacher und Opfer sowie die Folgen aussprechen. Wie haben Sie diese Resolution aufgenommen?
Prof. Dülffer: Es stellt eine wichtige und immer wieder neu zu leistende gesellschaftliche Selbstverständigung dar, sich der eigenen Geschichte zu vergewissern. Dass dazu an hervorragender Stelle die Opfer von Krieg und Gewalt gehören, versteht sich von selbst und ist daher wichtig. Dies auf gesamteuropäischer Ebene zu leisten, wird umso schwieriger, je konkreter historische Aussagen damit verbunden sind.
Die Resolution des Europäischen Parlaments entspricht schlechten parlamentarischen Gebräuchen, wenn sie nach 16 Spiegelstrichen, welche die Voraussetzungen zu artikulieren vorgeben, dann nochmals von A bis M durchbuchstabierte „Erwägungen“ nennt, und am Ende weitere 20 Schlussfolgerungen zieht. In den Erwägungen und Schlussfolgerungen stecken eine Fülle historischer Clichés, Verallgemeinerungen und Generalaussagen, die so Geschichte zur Magd gegenwärtiger Geschichtspolitik machen.
Es fragt sich grundsätzlich, wieweit Regierungen oder Parlamente in pluralistischen Gesellschaften konkrete geschichtliche Aussagen „verabschieden“ und ihnen hiermit einen Wahrheitsgehalt zusprechen, dessen Geltung gesellschaftlich durchzusetzen sei. Ich halte es für angemessener, solche historischen Aussagen einem zivilgesellschaftlichen Aushandlungsprozess zu überlassen, der selbst im ständigen Wandel ist. Resolutionen, parlamentarische Erklärungen oder gar entsprechende Gesetze zementieren nur zu leicht einen grundsätzlich offenen Stand der Forschung und Einordnung, der immer wieder neu gewonnen werden muss.
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Mord, Verbrechen, Kriegshetze, Genozid etc. muss in den jeweiligen Erscheinungsformen deutlich benannt werden, verträgt aber nur schwer eine öffentlich-rechtliche Legitimierung.
Das gilt umso mehr, wenn man sich auf die europäische Ebene begibt. Es gibt keine gesamteuropäische Erinnerung. Ob und wie diese durch gezielte Geschichtspolitik hergestellt werden kann oder sollte, ist fraglich. Es gibt nach meinem Dafürhalten vielmehr nationale und regionale Erinnerungen, die sich vielfach überschneiden und austauschen können und sollen. Das ist ein langdauernder, unabschließbarer und per se immer umstrittener und widersprüchlicher Prozess.