Die aktuelle Ausgabe der Fachzeitschrift "Zeithistorische Forschungen" widmet sich der "Zeitgeschichte des Rechts" (Heft 2/2019). Julia Eichenberg, Benjamin Lahusen, Marcus M. Payk und Kim Christian Priemel haben als Gastherausgeber/innen ein breites Spektrum von Beiträgen zusammengeführt, die juristische und zeithistorische Perspektiven miteinander verschränken (mehr dazu in ihrem Editorial).
Die Epoche der Zeitgeschichte ist zugleich eine Epoche des Rechts und der Verrechtlichung. Ohne Aufmerksamkeit für juristische Zusammenhänge können moderne Gesellschaften nicht verstanden werden. In ihnen bildet das Recht eine allgegenwärtige Struktur, deren basales Versprechen von Formalität, Unabhängigkeit und Invarianz selbst dort gilt, wo normative Konzepte von Rechtsstaatlichkeit, unabhängiger Justiz und Menschenrechten einen schweren Stand haben. Gleichwohl hat sich die zeithistorische Forschung bislang nur wenig für dieses juristische Fundament der Gegenwart interessiert, sondern sich meist auf jene Konfliktzonen beschränkt, in denen ein politischer Streit um Rechtsnormen, ihre Genese und Auslegung geführt wird. Doch während die Missachtung bereits vorausgesetzter rechtsstaatlicher Konventionen besondere Aufmerksamkeit findet, treten die Normalität des Rechts, seine Wandlungsfähigkeit, seine Beharrungskraft wie sein Obstruktionspotential in den Hintergrund.
Das Themenheft begibt sich auf die Suche nach solchen ubiquitären Praktiken und Kontexten des Rechts. In vier Fallstudien werden Eigenlogik und Geschichtsmächtigkeit des Rechtlichen im 20. Jahrhundert erkundet: Anhand der Tätigkeit sozialistischer Anwälte zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik (Timo Walz), mit Blick auf die Diskussion um einen „Stillstand der Rechtspflege“ in den 1930er-Jahren (Benjamin Lahusen), am Beispiel des Arbeitsrechts in der NS-Diktatur (Sören Eden), sowie auf die Zusammenarbeit polnischer und westdeutscher Juristen nach 1945 (Paulina Gulińska-Jurgiel) werden vor allem rechtliche Abläufe, Über- und Irrgänge beleuchtet.
Zugleich zielt das Heft auf eine interdisziplinäre Verständigung über Traditionslinien und methodische Instrumente, über wissenschaftliche Klassiker und mögliche Ansätze einer von Jurist/innen und Historiker/innen gleichermaßen und gelegentlich sogar gemeinsam betriebenen Rechtsgeschichte. In einem Roundtable diskutieren Justin Collings, Lena Foljanty, Martin Löhnig und Annette Weinke über fachliche Schnittmengen von Rechts- und Geschichtswissenschaft einerseits, über Gesprächsbarrieren und forschungspraktische Hindernisse andererseits. Anhand von exemplarischen Objekten werden auch Zusammenhänge zwischen der Virtualität und der Materialität des Rechtlichen ausgelotet. In Anknüpfung an Bruno Latour und andere Vertreter/innen der Akteur-Netzwerk-Theorie beleuchten die Autor/innen Gegenstände des Rechts: die Originalurkunde des Versailler Vertrages (Marcus M. Payk), das Nansen-Zertifikat der 1920er- und 1930er-Jahre (Kathrin Kollmeier), Adressbücher und Kalender von Londoner Exilanten während des Zweiten Weltkrieges (Julia Eichenberg) sowie die Übersetzungskopfhörer des Nürnberger Prozesses (Kim Christian Priemel).
Lawrence Douglas erinnert in der Rubrik "Neu gelesen" an das klassische Werk "The Bramble Bush" von Karl Llewellyn (1930), Achim Landwehr blickt auf seine prägenden Lektüre-Erfahrungen mit Niklas Luhmanns Buch "Das Recht der Gesellschaft" (1993) zurück. Und wer dann immer noch glaubt, das Recht sei eine staubtrockene Materie, möge zusammen mit Mala Loth die populäre Fernsehserie "Liebling Kreuzberg" schauen, die in den 1980er- und 1990er-Jahren besonders dank ihres Hauptdarstellers Manfred Krug die "Menschlichkeit des Rechts" vor Augen führte.
Die "Zeithistorischen Forschungen" werden am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam herausgegeben von Frank Bösch, Konrad H. Jarausch und Martin Sabrow. Die Zeitschrift erscheint gedruckt im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und zugleich im Open Access.