L.I.S.A.: Stichwort: Digitale Geschichtswissenschaft. Sie haben bei der Podiumsdiskussion von einer Umfrage berichtet, die Sie im Vorfeld der Tagung durchgeführt haben. Was genau war Ihre Frage und welche Antworten haben Sie erhalten?
Dr. Schuhmann: Zu den Aufgaben, die sich die AG „Digitale Geschichtswissenschaft“ selbst stellt, gehören u.a. der fachliche Austausch und die Förderung universitärer Lehrangebote. Daneben, und das erscheint mir besonders wichtig, will sie als Interessenvertretung der „Wissenschaft“ gegenüber der Politik und der Öffentlichkeit agieren. Da liegt es nahe zu fragen, wen und was genau die AG vertreten will.
Sieht man sich die Großprojekte der „Digital Humanities“ an, zeichnet sich die Vorstellung von staatenübergreifenden Forscherkollektiven, einem freien Zugang zu den Quellen, zu Forschungsprojekten und deren Ergebnissen ab. Die Lösung dieser digitalen Großarchitektur liegt in der Standardisierung. Schaut man genauer hin, ist für diesen Prozess ein ungeheurer Aufwand an Koordinations- und Organisationsarbeit nötig, zudem müssen große Summen für die technischen Infrastrukturen dieser Zentralisierungsprojekte aufgewendet werden.
Wie jedoch stellen sich die Produzenten die digitale Zukunft der weltweit vernetzten Forschungsergebnisse vor? Und wie, so lässt sich die Frage herunterbrechen, stellen sich Historiker/innen einen effizienten Gebrauch der jeweils aktuellen elektronischen Möglichkeiten vor. Aus den Antworten auf diese Frage ließe sich eventuell eine Prioritätenliste der Aufgaben der AG erstellen.
Ich habe einige Wissenschaftler/innen am Zentrum für Zeithistorische Forschung konkret danach gefragt, was sie unter dem Begriff der „Digital History“ verstehen und wie ihre derzeitige digitale Arbeitsumgebung aussieht. Außerdem wollte ich wissen, was sie sich für die Zukunft wünschen, wie sie sich konkret eine effiziente Arbeitsweise „Digitaler Geschichtswissenschaft“ vorstellen und was ihrer Meinung nach nötig ist, damit die digitale Euphorie in einen Mehrwert an Erkenntnis mündet.
Zu den Antworten der Wissenschaftler/innen:
Zunächst war von der Euphorie, mit der die Zukunft der Geisteswissenschaften als „Digital Humanities“ gefeiert wird, an der Forschungsbasis wenig zu spüren. Befragt nach Großprojekten wie CLARIN oder Europeana musste die Mehrzahl der Befragten eingestehen, davon zwar gehört zu haben, kaum jemand hatte jedoch konkrete Vorstellungen von den Zielen und Inhalten der Projekte.
Einig war man sich im Wunsch nach digitalisierten Quellen und Portalen mit verständlichen Suchfunktionen. Extrem wichtig war allen Befragten ein freier Zugang zu Materialien und Inhalten über den Verweis hinaus.
Geradezu schmerzlich vermisst wurden Recherchemöglichkeiten audiovisueller Quellen und zu Quellen materieller Kultur im Netz. Als problematisch wurde der extrem eingeschränkte Zugang zu audiovisuellen Quellen empfunden.
Die Vielfalt der aktuellen digitalen Angebote wurde positiv hervorgehoben. Dementsprechend attraktiv erschienen den meisten kleinere und mittlere Projekte, wie etwa Docupedia-Zeitgeschichte oder H-Soz-u-Kult. Abgelehnt wurden anonyme Netzstrukturen ohne analogen Ansprechpartner. Die Bedeutung der Archivare etwa, die als Lotsen durch die ungeheuren Materialmengen navigieren sollten, wurde auch in der digitalen Zukunft besonders hervorgehoben.
Bezweifelt wurde, dass Partizipation in jedem Fall einen Mehrwert bilde. Open Access-Projekte, so die Forderung, sollten grundsätzlich redaktionell geprüft werden.
Vollkommen einig war man sich darüber, dass es an Anerkennung und Reputation des digitalen Engagements der Wissenschaftler/innen fehle. Mit dem Einsatz in digitalen Projekten, so die Mehrzahl der Befragten, sei kein Blumentopf zu gewinnen. Infrastrukturelle Arbeit, so die Forderung, sollte künftig ähnlich bewertet werden wie wissenschaftliche Publikationen.
Unklar waren den Befragten die Förderkriterien für die aktuellen Großprojekte, hier wurde ein Mangel an Transparenz beklagt. Auf der anderen Seite, so wurde bemerkt, kranken kleinere Projekte an chronischen Verstetigungsproblemen nach Ende der Förderung.
Insgesamt wurden die Großprojekte mit Skepsis beobachtet. Es scheint nicht selten so zu sein, so einer der Befragten in diesem Zusammenhang, als würden zunächst ungeheure Mittel zur Verfügung gestellt und danach erst der Zweck für den Einsatz der Big Data-Projekte gesucht.
Als problematisch galt zudem die Tatsache, dass die digitale Geschichtswissenschaft neben der allgemeinen Geschichtswissenschaft existiert, ausgelagert in Facharbeitsgruppen, Arbeitsgemeinschaften, extra Panels auf Tagungen etc. Hier wäre eine selbstverständliche Integration wünschenswert.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die befragten Historiker/innen sich ein relativ überschaubares digitales Grundset wünschen.
Dazu gehören:
- stabile, zentral gepflegte interoperable Datenbanksysteme
- das Einfließen der digitalen Hilfswissenschaften in die universitären Curricula
- die Vielfalt und damit die Förderung mittlerer und kleiner digitaler Projekte
- ein handhabbares Set an Tools
Projektergebnisse sollten zudem im digitalen Kontext dokumentiert und für andere Wissenschaftler/innen zur Verfügung gestellt werden – und zwar über niedrigschwellige Angebote, die die Community wirklich erreichen. Und schließlich wurde eine größere Entspanntheit der akademischen Community gewünscht, wenn es um die Kommunikation in sozialen Netzwerken und Blogs geht.