Franca Buss und Philipp Müller: Gewalt ist seit jeher bildwürdig. Angesichts der Fülle von Gewaltbildern in der Presse und den sozialen Netzwerken entsteht dennoch häufig der Eindruck eines nie zuvor dagewesenen Ausmaßes an Gewalt. Täuscht dieser Eindruck oder erleben wir gerade eine neue Dimension von Gewalt?
Robert Kahr: Diese Frage ließe sich idealerweise empirisch beantworten. Letztlich begegneten weite Teile der Gesellschaft medialen ebenso wie technischen Innovationen stets skeptisch. Ein nie dagewesenes Maß an Eindrücken mit potentiellen destruktiven Wirkungen wird befürchtet. Allerdings ermöglichen digitale Medien und Endgeräte eine im Vergleich zu „hergebrachten“ Medien erheblich vereinfachte Rezeption und Herstellung von user-generated content. Ein Großteil der Bilder von Gewalttaten der jüngeren Zeit wurde mit Smartphones gefilmt. Dieser ungeheuren Menge von Gewaltdarstellungen in hoher Foto- bzw. Videoqualität, die dem Individuum eine faktische Unsicherheit suggerieren kann, steht der empirisch belegbare Fakt entgegen, dass wir in historisch sicheren Zeiten leben. Man stelle sich vor, die Menschen hätten bereits während der großen Kriege der letzten Jahrhunderte über Smartphones verfügt. Die Wahrscheinlichkeit, heutzutage einem Gewaltverbrechen zum Opfer zu fallen, ist eher gering. Umgekehrt proportional ist jedoch die Wahrscheinlichkeit hoch, dass jemand öffentlich stattfindende Gewalt aufzeichnet und postet.
Simon Menner: Der Holocaust hat uns gelehrt, dass auch in Abwesenheit von Kameras getötet und gelitten wird. Wir können dies aber kaum noch glauben. Sind wir doch daran gewöhnt, dass jedes noch so banale Ereignis visuelle Spuren hinterlässt, sodass eigentlich zu erwarten wäre, dass Ereignisse von großer Bedeutung besonders viele Bilder erzeugen.
Die Gefahr, die ich in der Fülle von Gewaltbildern sehe, ist die, dass wir den Punkt erreicht haben, an dem Gewalt, von der keine Bilder zu uns durchdringt, nicht real zu sein scheint. Die allgemeine Fülle an Bildern, lässt uns glauben, dass alles als Bild dokumentiert wird. Wo Bilder fehlen, da scheint nichts vorgefallen zu sein. Wir sehen dies beispielsweise, wenn wir die Konflikte in Syrien und Jemen und die gesellschaftliche Reaktion im Westen miteinander vergleichen. Die Bilder, die der Konflikt in Jemen erzeugen mag, werden kaum rezipiert und damit verliert der Konflikt und das Leiden an Relevanz – und vielleicht sogar an Realität.
Wenn wir uns mit Bildfülle beschäftigen wollen, so müssen wir sehen, dass alles in einem nie zuvor dagewesenen Ausmaß daherkommt. Die Tatsache, dass viele Leute jede Mahlzeit, die sie zu sich nehmen, fotografieren und teilen, hat sicherlich einen Einfluss darauf, wie Essen präsentiert wird. Es ändern sich auch die Zutaten oder die Rezepte, aber die Kalorienzahl bleibt vermutlich gleich. Natürlich ist dies ein holpriger Vergleich, aber ich glaube doch, dass sich an der Gewalt selbst durch die Existenz oder Nichtexistenz von Bildern kaum etwas ändert.
Ich habe mich sehr ausgiebig mit islamistischer Propaganda auseinandergesetzt. Es ist sehr interessant zu sehen, dass sich die Propaganda aus dem Umfeld des Islamischen Staates sehr stark von der aus dem al-Qaida-Umfeld unterscheidet. Anders als beim IS, fehlt die Darstellung von Gewalt bei al-Qaida fast vollständig. Keine Enthauptungen oder Erschießungen und fast keine getöteten Kämpfer. Ohne ins Detail zu gehen, hat dies sicherlich kulturelle Gründe, aber ist deswegen al-Qaida weniger brutal? Die Enthauptungen finden auch in diesem Umfeld statt und vermutlich sehen sie ähnlich aus, sie werden aber einfach nicht gefilmt oder die Filme werden nicht Teil der Propaganda.