Die Wissenschaft ist sich nicht einig: Brauchen wir ein Schulfach "Medienbildung"? Nein, sagen die einen, ein gesondertes Fach Medienbildung sei unnötig, weil der Umgang mit Google, Facebook oder Twitter integrativ in den einzelnen Fächern gelehrt werden könne. Ja, wir brauchen dieses Fach, sagen die anderen, denn eine modulare Ergänzung in den jeweiligen Fächern reiche nicht aus, um zu verstehen, wie das Internet funktioniere. In unserem Interview erklärt der Basler Medienwissenschaftler Prof. Dr. Roberto Simanoswki diese Position genauer.
"Der Mensch wird heute zunächst als Konsument angesprochen"
L.I.S.A.: Herr Professor Simanowski, als Medienwissenschaftler haben Sie sich vor allem auf digitale Medien spezialisiert. Dabei untersuchen Sie, wie digitale Medien in die Gesellschaft wirken, beispielsweise in Ihrem Buch „Digitale Medien in der Erlebnisgesellschaft“. Wie stark ist unser Alltag inzwischen vom digitalen Wandel erfasst?
Prof. Simanowski: Vor Jahren konnte man – wie Dietrich Kerlen 2003 in seiner Einführung in die Medienkunde (Stuttgart: 267) – noch schreiben, das Besondere des Internets spiele sich in der Sphäre des Kommerz ab, den man nun ganz und gar, einschließlich der Warenlieferung, im Medium durchführen kann. Die Sphäre der Kommunikation hingegen erfahre im Internet nur eine Verbesserung durch schnellere, globale Übertragungstechnologien, wandle sich aber nicht wesentlich. Das war damals schon nicht ganz richtig. Heute muss man den Einwands wahrscheinlich nicht einmal mehr begründen. Ein Blick auf die Mediennutzungspraxen und Kommunikationsgewohnheiten nicht nur der sogenannten „digital natives“ reicht, um zu sehen, wie sehr die digitalen Medien – also Computer, Internet und nun vor allem die sozialen Medien (Twitter, Facebook, Second Life) und mobilen Medien (Smartphone, Tablets) – alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens innerhalb von zehn Jahren verändert haben.
Das Ineinandergreifen nicht nur verschiedener medialer Systeme (z.B. Buch, Zeitung, Radio, Fernsehen, Musik, Video, Fotografie, Telefon), sondern auch verschiedener sozialer Systeme (z.B. Massenmedien, Wirtschaft, Religion, Wissenschaft, Kunst, Politik) im Hybridmedium Internet hat tiefgreifende Konsequenzen. Die auffälligsten sind wohl die zunehmende Entmachtung des Textes durch audiovisuelle Kommunikationsformen und die immer aggressivere Einbettung von Information in Werbung bis hin zur Manipulation von Information im Interesse der Werbung (zum Beispiel durch Flogging oder Googles AdSense-Werbekonzept). Der Mensch wird heute fast immer zunächst als Konsument angesprochen, bevor er ein zoon politkon sein kann. Das ändert unser Selbstverständnis radikal – wobei die Medien hier im Grunde nur einer gesellschaftlichen Entwicklung Gestalt geben, die seit dem von Lyotard notierten „Ende der Großen Erzählungen“ und dem von Fukuyama deklarierten „Ende der Geschichte“ im Zeichen der Erlebnisgesellschaft und Spaßkultur das Politische ohnehin diskreditiert hatte.
Ein anderes Beispiel ist die Kommunikation mit Unbekannten. Kerlen sah da 2003 keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem Mann, der in Edgar Allan Poes Geschichte Der Mann der Menge einem Unbekannten folgt, und dem Flanieren im Internet, wo man in Chatrooms mit Fremden spricht (S. 274). Das kann man heute gewiss nicht mehr so sagen. Poes Geschichte endet mit dem Satz „Es lässt sich nicht lesen.“ Damit ist das Gesicht des Mannes gemeint, dem der Ich-Erzähler folgt. Mit der Gesichtserkennungssoftware lässt sich heute jedes Gesicht lesen, und zwar nicht nur im bildlichen Sinne. Denn sobald das Gesicht identifiziert ist (und ein Bild mit Namen gibt es immer im Internet, und wenn ein Studienfreund es auf Flickr gestellt hat), sind alle Informationen zugänglich, die eben online zugänglich sind zu dieser Person.
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