Walter Laqueur gehörte zu den Intellektuellen einer Generation, die das 20. Jahrhundert in fast all seinen Ausschlägen nach unten wie nach oben erlebt hat. Seine Zeitzeugenschaft menschlicher Katastrophen wie den Nationalsozialismus, aber auch sein persönlicher Aufstieg nach 1945 haben ihn zu einem Historiker werden lassen, der mit ethnologischem Blick auf seine Themen blickte. Im September des Jahres ist Walter Laqueur im Alter von 97 Jahren gestorben. Wir haben die Historikerin Prof. Dr. Barbara Stambolis um ein Interview über diesen außergewöhnlichen Wissenschaftler und Publizisten gebeten.
"Walter Laqueur war ebenso Historiker wie Publizist"
L.I.S.A.: Frau Professor Stambolis, im September ist der Publizist und Historiker Walter Laqueur im hohen Alter von 97 Jahren in Washington D.C. gestorben. An was für einen Menschen denken und erinnern Sie sich, wenn Sie auf Walter Laqueur angesprochen werden? Was war Walter Laqueur vor allem – eher ein Historiker oder ein Publizist?
Prof. Stambolis: Walter Laqueur ist mir vor einigen Jahrzehnten bereits ‚begegnet‘, und zwar mit seiner 1974 erschienenen Kulturgeschichte der Weimarer Republik. Schon während meiner Promotionszeit bei Hans Mommsen zu jugendkulturellen und generationellen Fragen der Zwischenkriegszeit war für mich außerdem seine bis heute in Grundzügen gültige Arbeit über die deutsche Jugendbewegung wichtig. Als diese Studie im Jahre 1962 in London erschien, war sie mit einem bemerkenswerten Vorwort versehen, das nicht in die deutschen Ausgaben aufgenommen wurde. Darin wurde Laqueurs persönliche Verbundenheit mit seinem Forschungsgegenstand und die berechtigte Frage nach den facettenreichen Lebenswegen und weiteren ideologisch-politischen Positionierungen derjenigen angesprochen, die in der Weimarer Republik jung waren. In diesem breiten, keineswegs nur in den Nationalsozialismus hinweisenden sozialen und weltanschaulichen Spektrum von Zusammenschlüssen Heranwachsender fanden auch junge Juden zeitweise eine emotionale Heimat. Walter Laqueur hat sich ausführlich wiederholt zu dieser ‚Erfahrungsgruppe‘ geäußert, ohne sehr viel Persönliches aus seiner eigenen jugendbewegten Geschichte mitzuteilen, allerdings hin und wieder betont akzentuiert. Beispielsweise schrieb er rückblickend, er wolle seine „Erfahrungen in der Jugendbewegung auf keinen Fall missen. Diese bedeuteten in einer schwierigen Periode meines Lebens einen Anker, eine Insel des Friedens inmitten einer Welt, die mehr und mehr feindlich wurde, in ihr entwickelten sich Eigenschaften wie Disziplin und Verantwortungsgefühl, auch Führungsqualitäten“ (Wanderer wider Willen, 1995, S. 6).
Walter Laqueur war ebenso Historiker wie Publizist, der sich bis ins hohe Alter gesellschaftlich einmischte. Beides scheint mir nicht denkbar ohne seinen Lebens- und Erfahrungshintergrund, d.h. eine enge ‚Verzahnung von Leben und Werk‘. Er gehört einer Altersgruppe von Historikern an, denen 2016 die Studie „The Second Generation. Émigrés from Nazi Germany as Historians“ gewidmet war, und in der er überzeugend als ‚Wanderer zwischen Welten‘ seinen Platz findet. Er war einer derjenigen deutschen Bürger jüdischen Glaubens bzw. derjenigen Menschen, die wegen ihres Familienhintergrundes nach 1933 zu Juden erklärt worden waren und die durch Flucht und Emigration ihr Leben retten konnten. Dass er keine akademische Laufbahn als Historiker aufzuweisen hatte, ist der unheilvollen deutschen Geschichte geschuldet. 1938 verließ er als Jugendlicher Deutschland und immatrikulierte sich noch im selben Jahr als Student an der Hebräischen Universität Jerusalem. Nach einigen Jahren in Kibbuzim war er 1946 bis 1953 in Israel als Journalist tätig, bevor er als Historiker erfolgreich wurde.