Im Laufe der 1980er Jahre setzte in mehreren Staaten Europas ein Prozess der Privatisierung ein. Staatliches Eigentum an Infrastruktur und Betrieben sowie öffentliche Dienstleistungen überführten vor allem konservativ-liberale Regierungen in private Hand. Stellvertretend für diesen wirtschaftspolitischen Kurs in Deutschland sind unter anderem die Privatisierungen früherer Staatsunternehmen wie der Deutschen Post oder der Deutschen Bahn. Erhofft hatte man sich davon eine Entlastung der öffentlichen Haushalte und in Folge eines freien Wettbewerbs effizientere Strukturen und deutliche Preissenkungen. Der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Tim Engartner von der Goethe-Universität Frankfurt am Main hat sich die Privatisierung in Deutschland genauer angeschaut und seine Forschungsergebnisse zuletzt in Buchform veröffentlicht. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"Nahezu täglich finden sich neue Beispiele für Privatisierungen"
L.I.S.A.: Herr Professor Engartner, Sie haben zuletzt ein Buch veröffentlicht, in dem Sie sich in einer zeithistorischen und sozialwissenschaftlichen Perspektive mit der Privatisierungspolitik in Deutschland beschäftigen. Warum haben Sie sich eines Themas angenommen, über das schon mehrfach publiziert worden ist? Was gibt es Neues?
Prof. Engartner: Die historischen Entwicklungspfade sowie die politischen Argumentationsmuster sind natürlich nicht neu. Aber es gibt immer wieder neue Fälle, an denen sich die negativen Folgen von Privatisierungen ablesen lassen: die in öffentlich-privater Partnerschaft (ÖPP) errichtete Elbphilharmonie, die die Hamburger Steuerzahler knapp 800 Mio. Euro und damit zehnmal mehr gekostet hat als ursprünglich geplant, ist ebenso ein Beispiel wie die gerade beschlossene Privatisierung der Bundesautobahnen, die in einer PKW-Maut enden wird, oder aber die Privatisierung der Justiz, die im Rahmen internationaler Handelsverträge oder aber auch bei ÖPP-Projekten wie dem für die LKW-Maut zuständigen Firmenkonsortium namens Toll Collect immer häufiger durch private Schiedsgerichte verdrängt wird. Und zur Privatisierung von Bildung über Unterrichtsmaterialien privater Content-Anbieter wie Daimler und Volkswagen oder Deutsche Bank und Commerzbank ließe sich beinahe täglich Neues schreiben. Kurzum: Nahezu täglich finden sich neue Beispiele für Privatisierungen – auf kommunaler, auf Landes- oder auf Bundesebene, denn trotz der verheerenden Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008ff. ist die Mär von der Allmacht des Marktes lebendig.
Reaktionen auf den Beitrag
Kommentar
Neben vielen bekannten Reinfällen (Wasserversorgung, Autobahnbau, Bundesbahn in Vorber., Abwasserentsorgung, Toll Collect u.v.a.) möchte ich ein weniger bekanntes Ergebnis beisteuern.
Von 2005 bis 2012 fanden in der niedersächsischen Strassenbauverwaltung- auf Druck der regierenden CDU und der koaltionären FDP- zwei Pilotprojekte des Betriebs von Strassenmeistereien nach ÖPP-Maßstäben statt. Anfang 2013 gab es dazu eine recht umfangreiche Auswertung durch Gewerkschaft und Betriebsrat, im Beisein der Landespolitik und vieler Interessierter / Betroffener. Mehreren "mittleren" Nachteilen stand als positive Erfahrung eine schnellere Abwicklung von Baumaßnahmen gegenüber. Das Hauptergebnis fiel jedoch eindeutig stark negativ aus.
Die Befürworter hatten mit einer mindestens 10%-igen Kostenreduzierung geworben.
Tatsächlich erbrachten die Abrechnungen in der SM Herzberg und der SM Fürstenau eine einmal 35%-ige Verteuerung, im zweiten Fall 37% Verteuerung!
Oder zu gut deutsch: Absolut indiskutabel, das Ergebnis, nichtsdestoweniger werden hartnäckig derartige Irrwege angepriesen wie Sauerbier!
Kommentar
Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 12 (2015), Heft 3: Vermarktlichung, hg. von Ralf Ahrens, Marcus Böick und Marcel vom Lehn
http://www.zeithistorische-forschungen.de/3-2015