Im Wahlsieg der Mitte-Rechts-Koalition, zu der die Partei Forza Italia des Ex-Premier Berlusconi gehört, sehen viele Kommentatoren eine bedrohliche Veränderung der politischen Kultur Europas. Um Italien zu verstehen, ist es ist hilfreich, die Mentalität der Akteure aus kulturgeschichtlicher Perspektive zu beleuchten. Damit entsteht ein differenzierteres Bild der geistigen Situation unserer Zeit als die übliche Schwarz-weiß-Malerei.
Vom Übergang zur Dekoratie
Ein Meinungsbeitrag
I: Das Berlusconi-Programm
Berlusconis Umgang mit den demokratischen Institutionen, seine wirtschaftlichen und medialen Manipulationen sowie die Verurteilung wegen Steuerhinterziehung sind hinreichend bekannt. Seine Karriere begann er als Unternehmer. In die Politik ist Berlusconi in den 1990er Jahren mit der Gründung der Partei „Forza Italia“ eingetreten, welche die Wähler der sich auflösenden Christdemokraten sammelte. Es war die Zeit der Entstehung der „Zweiten Republik“, die der gegenseitigen Blockade der alten Eliten ein Ende gemacht hat.
Sein Lebenslauf zeigt Berlusconi als einen zielstrebigen self-made-man, der seinen Aufstieg seinem eigenen Engagement verdankt. Daraus haben sich starke Verflechtungen zwischen wirtschaftlichen Interessen und politischen Zielen entwickelt. Das entspricht seiner Überzeugung, Politik könne nur erfolgreich sein, wenn sie die Führungsmethoden eines großen Unternehmens in der Regierung des Landes anwendet. Diese Einstellung hat Berlusconi seit Jahren zur Zielscheibe heftiger Angriffe seitens linker Intellektueller gemacht, die im „Programm Berlusconi“ eine ernsthafte Bedrohung der Demokratie sahen. Das ist natürlich nicht ganz falsch, aber die spannende Frage lautet: Warum ist Berlusconi trotz allem immer wieder gewählt worden und warum wird er von vielen Wählern als Repräsentant der modernen politischen Kultur angesehen?
Sind die Durchschnittsitaliener so dumm, dass sie sich über Berlusconi Illusionen machen? Ich glaube kaum. Auch die Wähler wissen sehr genau, dass Berlusconi keine weiße Weste hat, obwohl er sich vom teuersten Herrenausstatter einkleiden lässt. Aber eines haben die Italiener nicht vergessen, nämlich die Tatsache, dass Berlusconi dem Land eine stabile Regierung gegeben hat, nachdem vorher die Regierung alle halbe Jahre wechselte. Die Stabilisierung und zugleich Modernisierung des Landes, die Berlusconi durchgesetzt hat, hatte populistischen Anstrich, hielt sich aber doch im Rahmen der demokratischen Institutionen. Das genügte den Italienern, da sie davon ausgehen, dass alle Politiker mehr oder weniger den gleichen unmoralischen Regeln folgen.
Hinzu kommt ein weiterer Punkt von besonderer Wichtigkeit. Die Italiener haben erkannt, dass Macht im Medienzeitalter den Raum der repräsentativen Demokratie verlassen hat. Nicht mehr gewählte Volksvertreter, die für die Zeit einer Legislaturperiode nach objektiven Maßstäben entscheiden können, bestimmen die Politik. Vielmehr sind es Markt und Medien, die hier und jetzt das Lebensgefühl der Konsumenten bedienen. Wir alle beklagen uns über diese Transformation der politischen Kultur, aber sie scheint in der Lage zu sein, auf ihre Weise die antagonistischen Kräfte so gegeneinander auszubalancieren, dass ein einigermaßen stabiles Gleichgewicht der gesellschaftlichen Gruppen entsteht.
Berlusconi hat dieses Gleichgewicht in seiner Person dargestellt, die viel von einem Schauspieler hat. Aber das entspricht der Mediengesellschaft, in der Politik nicht mehr und nichts anderes sein kann als ein Spiegel der Gesellschaft selbst. Politik ist kaum noch mit dem Handlungsbegriff beschreibbar, sondern unterliegt Gesetzen der Selbstdarstellung. Darin bedingen sich Herrscher und Beherrschte wechselseitig. Die politische Klasse wird verachtet, als korrupt und prinzipienlos eingeschätzt, gleichzeitig aber werden ihre Exponenten wie Stars gefeiert. Auf den Punkt gebracht: Die moderne Gesellschaft und die postmoderne allemal hat die Politiker und Politikerinnen, die sie verdient. Politik und Show gehen ineinander über, und wie wir es aus dem Zirkus kennen, muss in jeder Vorstellung der Clown auftreten. Wer hätte das gedacht? Silvio Berlusconi meets Ferdinando Galiani.
II: Die Galiani-Welt
Silvio Berlusconi mit Ferdinando Galiani zu vergleichen, mag unangemessen erscheinen. Handelt es sich doch um zwei Männer mit ganz verschiedenen geistigen Profilen. Der eine ein Intellektueller in den Pariser Salons des Ancien Regime, der andere ein Großunternehmer und ehemaliger Regierungschef Italiens. Galiani war zur Zeit Ludwigs des XV. der wohl bekannteste Italiener in Paris. 1759 trat er sein Amt als Sekretär der spanisch-neapolitanischen Botschaft an und bereits die Art, wie er sich bei seinem Antrittsbesuch am französischen Hof dem König präsentierte, machte Furore. Als sein extrem kleiner Wuchs bei den Anwesenden Heiterkeit erregte, fand Galiani die selbstironischen Worte: „Ich bin nur das Muster des Sekretärs – das Original folgt später nach". Durch sein lebhaftes Auftreten und seinen Witz eroberte Galiani die Pariser Salons, in denen er in Gesellschaft kluger Frauen die Abende verbrachte.
Schon im Alter von 23 Jahren hat Galiani 1751 eine Abhandlung Über das Geld veröffentlicht, die die Nationalökonomen von Marx bis in die Moderne anerkennend erwähnen. Angesichts der prekären Finanzsituation der europäischen Staaten bewegte die Gelddiskussion die Geister. Schon in diesem frühen Werk hat Galiani den Zusammenhang von Ökonomie und Anthropologie thematisiert. Eines der wichtigsten Bedürfnisse des Menschen ist für ihn das Streben nach Anerkennung. Damit verabschiedet sich Galiani von der christlichen Weltverachtung und artikuliert einen Strukturwandel der Öffentlichkeit, der bis heute noch nicht abgeschlossen ist.
Im Jahre seiner überraschenden Abberufung aus Paris, 1769, erschienen Galianis Dialoge über den Getreidehandel, in denen er sich kritisch mit der nationalökonomischen Schule der Physiokraten auseinandersetzt. Anders als die englischen Merkantilisten führten die Physiokraten den Mehrwert auf die landwirtschaftliche Produktion zurück, traten aber zugleich für den Freihandel ein, der den Spekulanten enorme Gewinne einbrachte. In dieser Kombination lag allerdings ein Widerspruch, der Galiani bewog, für eine Beschränkung des Freihandels einzutreten. Er erkannte, dass die Märkte allein nicht alles richten, dass die Politik der menschlichen Gier Grenzen setzen muss, eine Einsicht, die heutzutage hoch aktuell ist. Aber Galiani war Realist genug, um sich über die Natur des Menschen keine Illusionen zu machen. Er bezeichnet den Menschen als „absurdes Tier“, das immer etwas anderes tut als es zu tun vorgibt. Statt auf einen neuen Menschen zu hoffen, komme es vielmehr darauf an, ein Herrschaftssystem zu stabilisieren, das mit der unverbesserlichen Natur des Menschen fertig wird.
Galianis Schrift schlug wie eine Bombe ein und bestimmte eine Zeitlang die öffentlichen Debatten. Er selbst konnte das Schicksal seiner Dialoge nur noch aus dem fernen Neapel verfolgen, von wo er einen intensiven Briefwechsel mit Madame d'Epinay und anderen Pariser Freunden pflegte. Der sich über ein Jahrzehnt erstreckende Briefwechsel zählt zu den interessantesten zeitgeschichtlichen Dokumenten des Ancien Régime. Wie kein anderer hat Galiani die bevorstehende Implosion des Systems gespürt und gefürchtet.
Jean-Francois Marmontel hat Galiani in seinen Memoiren als schönsten „kleinen Harlekin“ Italiens bezeichnet, der auf den Schultern allerdings den Kopf Machiavellis trägt. Das ist ein zutreffendes Urteil, denn man kann Galiani geradezu als denjenigen bezeichnen, der Machiavellis Herrschaftsethik in die beginnende Moderne übertragen hat. Um Herrschaftskontinuität und Handlungsflexibilität zu gewährleisten, sind Politiker gezwungen, ständig die Dinge schön zu reden. Nur durch die Kontinuität des Scheins ist es möglich, die Menschen zu einem sozialverträglichen Zusammenleben zu bewegen. Darin hat Galiani den Weg für Nietzsches ästhetische Rechtfertigung der Welt bereitet. Immerhin hat Nietzsche Galiani als seinen „verstorbenen Freund“ bezeichnet und ihn zu den „tiefsten, scharfsinnigsten und vielleicht auch schmutzigsten Menschen seines Jahrhunderts“ gerechnet. In dieser Ambivalenz hat Galiani eine Denkform entfaltet, die für die Kulturkämpfe in Italien und in Europa bis heute prägend ist.
III: Politclown als Idealtypus
Wenn ich Berlusconi in eine Reihe mit Galiani stelle, so will ich damit nicht seine Person oder seinen Charakter etikettieren, sondern ihn als Exponenten eines neuen Politikertypus darstellen. Ich halte mich dabei an Max Webers Begriff des Idealtypus, der durch einseitige Steigerung eines Gesichtspunktes an der Wirklichkeit etwas sichtbar macht, was dem normalen Vollzug entgeht. Der Idealtypus ist also kein Durchschnittsbild, sondern ein gedankliches Konstrukt, mit dem der Betrachter arbeitet. Wendet man dieses Konzept auf Berlusconi an, so kommt ein überraschender Sachverhalt ans Licht. Berlusconi repräsentiert den Idealtypus „Politclown“. Er ist eine gekonnte Selbstinszenierung, in der Betrachter und Akteur sich wechselseitig stützen. In diesem Sinne ist Berlusconi der Spiegel der heutigen italienischen Gesellschaft und ihres postmodernen Lebensgefühls, in dem das Medium die Botschaft ist.
Hier bietet sich in der Tat die Theatermetaphorik an, die Typen der Commedia dell'Arte , der verliebte Gockel und die ehrbare Dirne. Das Bunga-Bunga-Verhältnis Berlusconis zu den Frauen ließ Feministinnen auf die Straße gehen, und am Wahltag gab es einen barbusigen Protest. Aber bei aller berechtigten Kritik darf man nicht ganz außer Acht lassen, dass es sich hier auch um ein Spiel mit typischen Fiktionen handelt, mit denen die italienische Mentalität immer schon vertraut war. Natürlich wurden die Frauen instrumentalisiert, aber das heißt nicht, dass Berlusconi ein Frauenverächter im moralischen Sinn ist. Er spielte nur das Spiel der Geschlechter, das in Italien nach etwas anderen Regeln gespielt wird als in Deutschland. Daher die teutonische Empörung und Faszination zugleich, die übrigens für die Toskana-Fraktion der deutschen Sozialdemokratie um Gerhard Schröder charakteristisch war.
Die Verwendung des Idealtypus in meiner anthropologischen Betrachtung ist nicht ganz unbedenklich. Wir alle wehren uns mit Recht gegen eine Festlegung auf bestimmte Typen und fühlen uns als Individuen, die ihr Leben selbst gestalten können. Das ist der eine Pol. Der andere Pol liegt im Universalismus rational begründeter Normen, wie sie global in den Menschenrechten niedergelegt sind. Beide Ansichten genügen aber nicht, um die gesellschaftliche Wirklichkeit zu beschreiben, und noch viel weniger, um sich in der Risikogesellschaft der anderen Moderne orientieren zu können. Vielmehr müssen beide Seiten sich ergänzen. Das geschieht im Phänotypus der digitalen Welt. Wie sich die Moden ändern, ändert sich auch der Phänotypus im Rhythmus der Generationenfolge. Doch es scheint Archetypen zu geben, deren konkrete Ausformung vom Harlekin zum Politclown reicht. Der „kleine Harlekin" Galiani und der nicht viel größere „Politclown" Berlusconi sind immer für Überraschungen gut, und ohne Überraschungen wäre die Welt, in der wir leben und philosophieren, zum Sterben langweilig.