Kostopoulos: Gerade die Tatsache, dass diese Monumente unmittelbar sichtbar waren, hat mit dazu beigetragen auch die damit verbundenen historischen Ereignisse, Entwicklungen und Personen für die Zuhörer präsent und glaubhaft zu machen. Diese Verknüpfung von unmittelbarer Anschauung und Appell an die Vorbildwirkung der Vergangenheit wird sehr schön im Schlusssatz der „Rede über die Freiheit der Rhodier“ deutlich, die Demosthenes 351 v.Chr. gehalten hat (Demosth. 15,35). Dort heißt es an die Adresse der Volksversammlung: „Erwägt also, daß diese (Siegeszeichen) von euren Vorfahren errichtet worden sind, nicht um sie in müßigem Anschauen zu bewundern, sondern um auch die Tugenden derjenigen nachzuahmen, die sie aufgestellt haben.“
L.I.S.A.: Finden sich Redestrategien, die mit Vergangenheitsbezügen arbeiten auch in anderen Regionen und Kulturen bzw. in der heutigen Zeit wieder?
Kostopoulos: Die Bezugnahme auf die eigene Vergangenheit lässt sich auch in zahlreichen anderen Epochen und Kulturen aufzeigen – natürlich nur bei entsprechender Quellenlage. Interessant sind dabei für mich besonders solche Vergleiche, die sich in einem ähnlichen Feld der „Debattenkultur“ wie das klassische Athen bewegen.
Der am nächsten liegende Vergleich zu den Redestrategien des klassischen Athen bietet die politische Kultur der späten römischen Republik, wo besonders in den überlieferten Reden des Cicero zahlreiche Vergangenheitsbezüge auftauchen.[3] Auch im Bereich der Neuzeit lassen sich ähnliche Beispiele finden. So ist z.B. die Nutzung der Vergangenheit in den englischen Parlamentsdebatten vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts betont worden.[4]
Vergangenheitsbezüge als Redestrategien besonders der politischen Kommunikation finden sich genau so auch in der heutigen Zeit, wenn auch nicht in demselben Ausmaß, der im Athen des 4. Jahrhunderts zu beobachten ist. Ausführliche Exkurse zu historischen Themen sind selten (abgesehen von Reden, die sich explizit auf historische Ereignisse beziehen, z.B. Gedenkreden an Jahrestagen), viel häufiger ist dagegen das bloße Anspielen auf Ereignisse oder ihre Degradierung zur Floskel. Ebenso stehen weniger außenpolitisch-militärische Leistungen (höchstens in Form von Negativbeispielen) als innenpolitische „Marksteine“ im Mittelpunkt.
Gerade im letzten Jahr hatte natürlich die Bezugnahme auf Ereignisse rund um die deutsche Wiedervereinigung und Einheit Hochkonjunktur – gleichzeitig auch ein schönes Beispiel, wie Vergangenheit positiv im Sinne des Zusammengehörigkeitsgefühls gebraucht wird.
Unter die Rubrik „missverständliche Vergangenheitsbezüge“ fällt sicherlich die Aussage des damaligen Außenministers und Vizekanzlers Guido Westerwelle vom 11. Februar 2010, der die Diskussionen um die Anhebung von Hartz-IV-Sätzen mit „spätrömischer Dekadenz“ in Verbindung brachte. Dies ist ein Beispiel dafür, wie der Umgang mit Vergangenheit auch missglücken und wiederum zu neuen Debatten führen kann - solche Fälle hat es bestimmt auch im klassischen Athen gegeben, anhand der Quellenlage lassen sie sich aber nicht mehr nachvollziehen. Wir kennen leider nur in den seltensten Fällen die Reaktionen der Zuhörer auf eine Rede oder gar auf einzelne Redeteile.
Die der ausgewählten Beispiele ließe sich beliebig erweitern und zeigt die Möglichkeiten vergleichender Untersuchungen auf - ein weiteres spannendes Forschungsfeld!
[1]Bei der Frage nach der Stellung des Redners innerhalb der athenischen Demokratie stütze ich mich v.a. auf die ausgezeichnete Arbeit von Josiah Ober, Mass and elite in democratic Athens. Rhetoric, ideology and the power of the people, Princeton 1989 sowie den Aufsatz von Elke Stein-Hölkeskamp, Perikles, Kleon und Alkibiades als Redner. Eine zentrale Rolle der athenischen Demokratie im Wandel, in: Christoff Neumeister, Wulf Raeck (Hrsg.), Rede und Redner. Bewertung und Darstellung in den antiken Kulturen (Kolloquium Frankfurt a.M., 14.-16. Oktober 1998), Möhnesee 2000, 79-93.
[2]Ein umfangreiches Verzeichnis der auf Vergangenheit basierenden Textstellen findet sich bei Michel Nouhaud, L'utilisation de l'histoire par les orateurs attiques, Paris 1982.
[3]Dazu Frank Bücher, Verargumentierte Geschichte. Exempla Romana im politischen Diskurs der späten römischen Republik (Hermes Einzelschriften 96), Stuttgart 2006.
[4]Willibald Steinmetz, Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspielräume England 1780-1867, Stuttgart 1993.