An Biographien und Studien zu Vincent van Gogh mangelt es nicht, aber die jüngst von Prof. Dr. Manfred Clemenz vorgelegte Monographie sucht einen neuen Zugang zu diesem außergewöhnlichen Maler. Aus psychologischer Sicht wird erstmals van Goghs Leben und Werk zueinander in Beziehung gesetzt. Was trieb den Künstler an? Welche Schlussfolgerungen zog er aus seinem künstlerischen Schaffen für seine Vorstellungen von einem guten und gerechten Leben? Welche Aufgabe kommt dabei der Kunst grundsätzlich zu? Bei der Beantwortung dieser und daran anschließender Fragen proklamiert der Soziologe, Kunsthistoriker und Psychotherapeuth Manfred Clemenz nicht zuletzt auch das Ende der traditionellen Kunstgeschichte. Wir haben ihm unsere Fragen gestellt.
"Komplexes Zusammenspiel von Biographie, Kunstphilosophie, und politischen Überzeugungen"
L.I.S.A.: Herr Professor Clemenz, Sie haben ein neues Buch über Vincent van Gogh veröffentlicht - ein Porträt des Malers. Bevor wir auf einige konkrete Punkte zu sprechen kommen – was interessiert Sie an van Gogh? Was reizt Sie an diesem Künstler?
Prof. Clemenz: Ich möchte diese erste Frage aus einer ganz persönlichen Sicht beantworten. Als Biographieforscher und Kunsthistoriker hatte ich stets ein großes Interesse, geradezu eine Leidenschaft für Künstler, bei denen Kunst und Leben miteinander verwoben sind. Generell bin ich der Auffassung, dass Kunst und Leben nicht voneinander zu trennen sind, worauf interessanterweise der große Stiltheoretiker Heinrich Wölfflin bereits vor hundert Jahren hingewiesen hat und von einer „synthetischen“ Betrachtung spricht (ich bin in einem Exkurs in meinem Buch näher auf diese Diskussion eingegangen). Meines Erachtens ist diese Verbindung von Kunst und Leben sogar umso ausgeprägter, je höher der Rang des Künstlers ist. Dieser Zusammenhang ist gerade bei van Gogh, aber auch bei Klee und Jawlensky, später bei Picasso unübersehbar.
Ich habe denn Zusammenhang von Kunst und Leben sehr weit gefasst. So habe ich – meines Wissens erstmals – das Werk van Goghs im komplexen Zusammenspiel seiner Biographie und seinen kunstphilosophischen, religiösen und politischen Überzeugungen dargestellt. Selbstverständlich ist auch die soziale, politische und kulturelle Situation seiner Zeit in die Betrachtung eingeflossen. Damit erscheint van Gogh in einem neuen Licht.
Als ich mein Buch über Paul Klee schrieb, beschäftigte ich mich gleichzeitig mit van Gogh und war fasziniert von der gerade diametralen Unterschiedlichkeit - in vielen Punkten aber auch Übereinstimmung - der beiden Künstler. Paul Klee war introvertiert, geradezu weltfremd (was gelegentliche Geschäftstüchtigkeit nicht ausschloß). Er wollte am Ursprung der Schöpfung leben, das politische Leben interessierte ihn - bis zu seiner Vertreibung - kaum. Van Gogh war extrovertiert und leidenschaftlich bis zur Manie, stets auf der Suche nach Exstase, sei es in der Kunst, in der Religion oder in der Beziehung zu Frauen, er war stark an Politik - insbesondere an der "sozialen Frage" - interessiert und geradezu lebensgefährlich geschäftsuntüchtig. Er litt an allem: an der Kunst, an Frauen, an der Politik und an seiner Erfolglosigkeit. Paul Klee konnte sich dies durch eine Art stoischer Distanz - ein Modus psychischer und sozialer Verhärtung - vom Leib halten, was er vermutlich mit seiner Erkrankung an Sklerodermie bezahlen musste.
Somit ist mein Buch über van Gogh auch ein anderes geworden als das Buch über Klee, weniger vom methodischen Vorgehen her, als vielmehr durch die Mentalität und die Aura der Protagonisten. So steht bei van Gogh das Leiden an sich selbst und an der Welt, der „Riss“, wie ich ihn bezeichnet habe, von Anfang an in meinem Portrait des großen holländischen Künstlers im Vordergrund. Seiner Kunst hat dies nicht geschadet, im Gegenteil, sie war eine zentrale Triebfeder seines künstlerischen Schaffens.
Noch ein Wort zu Picasso. Er hat seine Bilder bekanntlich als sein Tagebuch bezeichnet und die Bilder entsprechend datiert. Scherzhaft wurde gesagt, dass er mit jeder neuen Frau seinen Stil ändere. An seinem Beispiel lässt sich die Beziehung zwischen Kunst und Leben geradezu experimentell untersuchen, was allerdings kein 1: 1-Verhältnis ist. Kunst ist kein Rorschach-Test des Künstlers.