Die Wissenschaft ist gerade in Bewegung – nicht zuletzt durch den gegenwärtigen Novellierungsprozess des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes. Wir hoffen, dass wenigstens ein paar der vielfältigen Probleme angegangen werden, obwohl es gerade eher nach kleinteiligen Nachbesserungen – oder gar Verschlimmbesserungen? – anstatt neuer struktureller Weichenstellungen aussieht. Dabei sind das Gesetz[1] und die prekären Bedingungen,[2] unter denen Wissenschaft in Deutschland stattfindet, nicht die einzigen akuten Problemfelder für Wissenschaftler: innen. Die Probleme sind eigentlich viel grundsätzlicher.[3] Viele Defizite liegen dank der jüngsten Analysen immerhin auf der Hand und werden benannt. Das alles gilt speziell auch für die Geschichtswissenschaft.[4]
Utopia. Die Zukünfte der Geschichtswissenschaft
Visionen und Meinungen für eine optimale Wissenschaftskultur. Herausgegeben von Sebastian Kubon und Kathrin Meißner
Im alltäglichen Aufgabenkanon wissenschaftlicher und administrativer Tätigkeiten bleibt jedoch kaum Zeit und Raum über Strukturen in Ruhe nachzudenken und über den Tellerrand der eigenen akademischen Arbeit hinauszublicken. Wir sind damit beschäftigt, problemlösungsorientiert die vielen verschiedenen Zuständigkeiten und Erwartungshaltungen zu erfüllen: nach dem Semester ist vor dem Semester, ein Vortrag folgt dem nächsten und einen Überblick über die Arbeitsstände diverser Publikationen zu behalten, stellt schon genügend Herausforderungen dar, die im Spagat mit dem Privatleben, Pendelei und Gedanken um Finanzierung und Weiterbeschäftigung gemeistert werden müssen.
Was es daher meist weniger gibt in den gegenwärtigen Debatten: Visionen! Aus diesem Grund wollen wir positive Zukunftsentwürfe für die deutsche Geschichtswissenschaft in dieser Beitragsreihe in den Mittelpunkt stellen. Die Beitragsreihe trägt entsprechend den Titel „Utopia. Die Zukünfte der Geschichtswissenschaft“. Es geht dabei nur zu einem kleineren Teil darum, Defizite zu benennen, sondern mehr die weitreichendsten Bedingungen und Ausprägungen zu erdenken, die für eine moderne Geschichtswissenschaft wünschenswert wären. Wir haben die Beiträger:innen daher eingeladen, möglichst visionär zu denken und uns diese Gedanken mitzuteilen. Als Anregung haben wir ein paar Orientierungsfragen erstellt, die aber nicht zwingend eine Struktur/Argumentation vorgeben:
- Was sind die zentralen Probleme der deutschen Geschichtswissenschaft? Oder: Wo steht die Geschichtswissenschaft deshalb gegenwärtig? (Kann auf formale Bedingungen und/oder inhaltliche Ausrichtungen bezogen werden.)
- Was zeichnet die deutsche Geschichtswissenschaft aus? Welche bestehenden Aspekte sollten gestärkt werden?
- Wie sieht die beste aller Zukünfte der Geschichtswissenschaft aus? Und was machen wir da auf welche Weise, wenn es keinerlei Beschränkungen irgendwelcher Art gäbe? (Bitte diese Zukunft farbig nach dem „Wünsch-Dir-Was!-Prinzip" ausmalen.)
- Was würdest/würden Du/Sie gerne in einer optimalen Geschichtswissenschaft auf die Beine stellen? Warum geht das gegenwärtig nicht und was müsste man ändern?
Die entstandenen Beiträge werden künftig in einem Dossier gesammelt. Dieser Beitrag dient als Initialbeitrag und ist zugleich Ankündigung und Aufruf. Danach erscheinen im festen Rhythmus weitere Diskussionsimpulse bis zum Historikertag[5] im September. Eine Längenbegrenzung der Beiträge haben wir nicht vorgegeben, sondern nur darum gebeten, eine 20%/80%-Ratio von Defizitbeschreibung zu Visionen, Utopien und Zukunftsbeschreibungen anzustreben. Es sollen im Laufe der Zeit auch möglichst viele Kolleg:innen zu Wort kommen, die eben noch nicht das rettende Ufer einer entfristeten Stelle erreicht haben oder die sich von einer akademischen Karriere innerhalb der Geschichtswissenschaft abgewandt haben. Die Beträge können kommentiert werden. Wir rufen dazu auf, diese Möglichkeit reichhaltig zu nutzen, um vielleicht wirklich in eine Diskussion über innovative Ideen zur Umgestaltung der Wissenschaftsstrukturen, aber auch gelebten Wissenschaftskultur einzutreten. Wir würden uns auch über Einreichungen mit weiteren, möglichst weitreichenden Utopien freuen und hoffen, mit diesem Dossier eine Debatte über die Probleme anzustoßen, aber auch Impulse für das Erdenken von neuen, anderen und besseren Konstellationen und Bedingungen für die deutsche Geschichtswissenschaft zu geben.