Der griechische Geschichtsschreiber Herodot (5. Jh. v. Chr.) begnügt sich in seinen Historien selten damit, den reinen Ablauf eines Geschehens darzustellen. In aller Regel erzählt er nicht nur, was sich ereignet, sondern auch, warum es dazu kommt. Diese Vorgehensweise deutet sich schon im Proömium an, wo es programmatisch heißt, der Autor werde sich vor allem mit dem Grund beschäftigen, der zu den Kriegen zwischen Barbaren und Hellenen geführt habe. Herodot bezieht also die Frage nach Gründen und Ursachen in seine Forschungen ein. An über 500 Stellen thematisiert er ausdrücklich, was jemanden zu einer bestimmten Handlung bewegt hat, und immer wieder widmet er dieser Frage eine eigene Diskussion.
Herodots Ansatz ist allerdings weniger »modern«, als es vielleicht zunächst den Anschein haben mag. Das zeigt sich etwa, wenn es um die Gründe geht, aus denen Kriege begonnen werden. So fängt in Herodots Darstellung der König Kroisos einen Krieg an, um seinen Schwager zu rächen (I 73), und die Spartaner überfallen ihre Nachbarn, weil sie das friedliche Leben satt haben (I 66,1). Fast immer stehen solche ganz persönlichen Motive eines einzelnen oder einer Gruppe im Vordergrund.
Schon ein erster Überblick über das Material zeigt, daß immer wieder ähnliche Erklärungen vorkommen, wenn Herodot das Handeln eines Akteurs erklären will: Selbstüberschätzung und Wahn, Stolz, Ehre, Zorn, Rachegelüste, Neid, Reue, Scham, Angst, Mißtrauen, Zweifel, Zwang, Armut, Neugier, strategisches Kalkül und Machtstreben, Gier, aber auch göttliches Geheiß, Träume und Orakelsprüche treiben die Protagonisten zu ihren Entscheidungen. Um solche Handlungsmotive und Beweggründe geht es in meinem Projekt.
Grundlage meiner Arbeit ist ein Katalog sämtlicher Handlungsmotive bei Herodot. Die sehr unterschiedlichen einzelnen Beweggründe der verschiedenen Protagonisten werden in einer Typologie geordnet und analysiert. Abschließend soll Herodot mit einem anderen Autor verglichen werden, um meine Methode zu überprüfen; hier bietet sich natürlich sein Nachfolger Thukydides als idealer Vergleichspunkt an.
Ziel der Studie ist es nicht, anhand von Herodots Darstellung die "wahren" Motive, die ein Xerxes oder Themistokles verfolgt haben mag, zu rekonstruieren. Bei den von Herodot angegebenen Beweggründen handelt es sich um Zuschreibungen; sei es, daß er sie von seinen Quellen übernimmt, sei es, daß er sie selbst trifft. Doch gerade weil wir es hier mit Zuschreibungen zu tun haben, verdienen diese Angaben unsere Aufmerksamkeit. Zwar sagen sie -- was im Einzelfall zu prüfen wäre -- mitunter wenig über die historischen Akteure aus und sind so für eine positivistische Geschichtsschreibung von geringem Wert gewesen. Es scheint mir aber berechtigt, von der Annahme auszugehen, daß Zuschreibungen dieser Art bestimmten gesellschaftlichen Regeln folgen müssen, um Plausibilität beanspruchen zu können. Für Herodot und seine Zeitgenossen müssen sie glaubhaft und dazu geeignet gewesen sein, die Handlungsweisen und Entscheidungen historischer Akteure verständlich zu machen. Daher gestatten sie einen Einblick in Herodots Arbeitsweise, der zum Verständnis der Historien beitragen kann und damit möglicherweise auch das historische Geschehen, das dem Werk zugrundeliegt, in ein neues Licht zu rücken vermag.
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