Es weihnachtet schon sehr und das bedeutet nicht zuletzt, dass auch das große Essen wieder bevorsteht. Die Frage, was es denn an Weihnachten zu essen gibt, gehört zu den meistgestellten. Überhaupt spielt Essen in unserer Kultur eine inzwischen omnipräsente Rolle. Koch-Shows auf allen TV-Sendern, Kochbücher von immer mehr Fernsehköchen, neue Essgewohnheiten und Esstabus sowie eine Flut von Essensfotos in den Sozialen Netzwerken zeigen: Essen ist Kult, Essen hat Popstatus. Wie ist es zu erklären, dass ein Grundbedürfnis menschlicher Existenz zu einem derart populären Phänomen werden konnte? Auf welche kulturellen Einflüsse ist dieser Wandel zurückzuführen? Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin PD Dr. Anne-Rose Meyer von der Universität Wuppertal hat gemeinsam mit Prof Dr. Kikuko Kashiwagi-Wetzel ein Buch herausgegeben, in der sie Theorien des Essens seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts gesammelt und zusammengestellt haben. Wir haben PD Dr. Anne-Rose Meyer dazu unsere Fragen gestellt.
"Das Nachdenken über Essen hat eine lange Tradition"
L.I.S.A.: Frau Professor Meyer, Sie haben gemeinsam mit Prof. Dr. Kikuko Kashiwagi-Wetzel einen Band zur Theorie des Essens herausgegeben. Bevor wir auf einige Punkte im Einzelnen eingehen, was hat Sie zu diesem Band bewogen? Welche Vorüberlegungen gingen dem voraus?
PD Dr. Meyer: Essen ist unterhaltsam, spannend, geht uns alle an – schließlich tun es viele von uns täglich. Frühstück, Zwischenmahlzeiten, Mittag- und Abendessen strukturieren den Tag. Essen ist in unterschiedlichen Zusammenhängen von großer Wichtigkeit – etwa bei religiösen Kulten wie dem Abendmahl, im Ramadan oder beim Pessach-Fest. Oder mit Blick auf die eigene Gesundheit. Oder bei Fragen nach Werten: Was soll ich essen? Darf ich beispielsweise Tiere schlachten und verzehren? In unseren Breiten hat Essen immer auch etwas mit dem guten Leben zu tun. An Festen etwa gibt es Kuchen, wir trinken Sekt. Üppige Buffets oder ein Esstisch mit Schüsseln und Platten voller Leckereien gehören zum Feiern dazu, genauer: gutes Essen in großen oder wenigstens ausreichenden Mengen ist ein Merkmal von ‚Festlichkeit‘. Essen ist aber auch dann von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit, wenn es nicht genug davon gibt. Im Krieg beispielsweise, in vielen Hungerregionen auf der Welt. Hier hat Essen ganz klar auch eine politische Dimension.
Obwohl es untrennbar mit unserem Dasein verbunden und für die Selbstbestimmung und Lebensqualität vieler Menschen wichtig ist, denken wir über Essen selten systematisch nach. Die Beschäftigung mit Essen stand in den Geisteswissenschaften lange in dem Verdacht, banal zu sein. Tatsächlich aber hat das Nachdenken über Essen eine lange Tradition, bereits in der Antike war die Diätetik, von griechisch diaitetike, eine zentrale Disziplin der Heilkunst. Die Lehre von der vernunftgemäßen Lebensweise umfasste Überlegungen zu gesunder Ernährung ebenso wie zu Ideen des Maßhaltens, der Selbstsorge und dazu, wie ein Mensch Geselligkeit pflegen sollte, um in Harmonie mit sich und seiner Umwelt zu leben. Es handelte sich also um ein umfassendes, man könnte sagen: ganzheitliches Konzept, das auch in der Philosophie Thema war, etwa bei Platon.
Bedeutende Denker setzen sich seit mehr als zweitausend Jahren intensiv mit Essen auseinander, sowohl in der Philosophie als auch in der Theologie, der Soziologie, Psychologie, Ethnologie, Medizin und in diversen anderen Disziplinen. Gleichwohl handelt es sich um eine in der öffentlichen Wahrnehmung eher verborgene Spur. Allein im 20. Jahrhundert beschäftigten sich so wichtige Theoretiker wie Georg Simmel und Sigmund Freud mit Essen, Elias Canetti, Julia Kristeva, Roland Barthes, Norbert Elias, Pierre Bourdieu, Claude Lévi-Strauss, Mary Douglas, Jacques Derrida, um nur einige zu nennen. Wenigstens für das 20. und das beginnende 21. Jahrhundert wollten wir mit einer exemplarischen Textsammlung zeigen, wie präsent und wesentlich Essen für uns alle ist und was in den Geistes- und Sozialwissenschaften in den vergangenen Jahrzehnten und in jüngerer Zeit dazu gesagt wurde.