Warum ist es zur Reformation gekommen? Wer sich mit den politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnissen im Jahrhundert vor der Reformation beschäftigt, kann dieser Frage nicht ausweichen. Doch auch wer vor allem die Weltwirkung der Reformation im 16. Jahrhundert und darüber hinaus in den Blick nimmt, muss sich mit den Ursachen der Reformation auseinandersetzen. Die ältere Forschung hatte vor allem kirchliche Missstände des ausgehenden Mittelalters hervorgehoben und damit letztlich ein ganzes Zeitalter verurteilt. Das Morgenrot der Reformation schien das sprichwörtliche „finstere Mittelalter“ zu überstrahlen.
Tagung: „Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland"
04/19/2012 – 04/21/2012 | Leipzig, Historisches Seminar der Universität Leipzig
Tatsächlich aber war die Reformation nicht das Ergebnis einer kirchlichen oder gesellschaftlichen Krise. Dieser Befund ist seit gut 30 Jahren unter Fachhistorikern kaum bestritten. Vielmehr erweist sich die Reformation in vielerlei Hinsicht als das Ergebnis einer Intensivierung der kirchlichen Frömmigkeit um 1500, die alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens durchdrang. In einem vom Christentum durch und durch geprägten Zeitalter führte die Reformation Entwicklungen weiter, die bereits im 15. Jahrhundert vorbereitet waren und lange nachwirkten. In diesem Sinne ist es kaum sinnvoll, die Reformation als eine Epochenzäsur zu betrachten, die Mittelalter und Neuzeit trennt. Vielmehr ging es der Kirche als Institution wie auch den einzelnen Gläubigen vor wie nach der Reformation darum, Antworten auf drängende religiöse Fragen zu finden, die stets auch Lebensfragen waren.
Leider haben sich diese Erkenntnisse, die auch das ökumenische Verhältnis in Deutschland entkrampfen könnten, über die Grenzen der Fachwissenschaft hinaus kaum herumgesprochen. Aus diesem Grund soll es im Rahmen der Reformationsdekade eine Ausstellung geben, sich dem Thema der vorreformatorischen Frömmigkeit annimmt. Chronologisch wird der Schwerpunkt auf dem 15. und frühen 16. Jahrhundert liegen, also der Zeit, aus der Martin Luther kam. Der geografische Rahmen wird Mitteldeutschland sein, das jene Regionen umfasst, die gemeinhin als „Mutterland der Reformation“ bezeichnet werden. Obwohl die kirchlichen Verhältnisse Mitteldeutschlands intensiv durch die Reformation und die lutherische Konfessionalisierung geprägt wurden, ist es erstaunlich, wie viele Bild- und Sachzeugnisse aus der vorreformatorischen Zeit noch erhalten sind. So ist es möglich, eine versunkene Frömmigkeitskultur, die den Alltag früherer Generationen ganz selbstverständlich durchdrungen hat, wieder zu entdecken.
Die Ausstellung wird von September 2013 bis Oktober 2014 nacheinander in den Mühlhäuser Museen, dem Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig und dem Kulturhistorischen Museum Magdeburg zu sehen sein. Zur Vorbereitung dieser Ausstellung haben die beteiligten Museen mit dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V., der Historischen Kommission für Thüringen und der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt ein Forschungsprojekt begründet, das von der Gerda-Henkel-Stiftung unterstützt wird. Diese wissenschaftliche Vorbereitung ist besonders deshalb nötig, weil die vorreformatorische Frömmigkeit zwar in Westdeutschland seit den
60er Jahren des 20. Jahrhunderts ein gängiges Forschungsthema ist, in Mitteldeutschland aber bisher kaum eine Rolle spielte.
Eine wichtige Etappe dieses Projektes ist eine Tagung, die vom 19.-21. April vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden gemeinsam mit dem Lehrstuhl für Sächsische Landesgeschichte am Historischen Institut der Universität Leipzig veranstaltet wird. Experten aus verschiedenen Disziplinen werden hier erstmals versuchen, durch die Präsentation exemplarischer Befunde aus verschiedenen Regionen und sozialen Milieus ein Bild der Frömmigkeit in Mitteldeutschland um 1500 zu zeichnen. Dabei darf mit einer Reihe von neuen und unerwarteten Befunden gerechnet werden, die den populären Zerrbildern über die Verhältnisse vor der Reformation fundierte Erkenntnisse gegenüberstellen.