Die nationalsozialistische Führung förderte den Sport in einem besonderen Maße. In ihm sah sie neben einem Instrumentarium zur körperlichen Ertüchtigung der Deutschen vor allem einen Schlüssel zur Inszenierung der sogenannten Volksgemeinschaft. Dabei kam es insbesondere darauf an, das Heer der Werktätigen zu aktivieren, die in der Regel angehalten waren, sich an betriebssportlichen Aktivitäten zu beteiligen, die auch bis in die Freizeit hinein reichen konnten. Bis heute bildet der Aspekt von "Arbeit und Freizeit" in der Erforschung der NS-Sportgeschichte eine Lücke. Die Historiker Prof. Dr. Frank Becker und Dr. Ralf Schäfer haben nun in der Reihe Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus einen neuen Band herausgegeben, der sich diesem Aspekt widmet. In einer neuen Serie veröffentlichen wir in den kommenden Wochen Interviews mit Autorinnen und Autoren des Sammelbandes. Den Auftakt macht unser Interview mit dem Herausgeber Dr. Ralf Schäfer.
"In der Geschichtswissenschaft wurde die Sporthistoriografie lange kaum beachtet"
L.I.S.A.: Herr Dr. Schäfer, in der Zeitschrift Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus haben Sie gemeinsam mit Prof. Dr. Frank Becker einen neuen Band zum Thema Sport und Nationalsozialismus herausgegeben. Es ist nicht der erste Sammelband zur Sportgeschichte des Nationalsozialismus, und wie Sie selbst in der Einleitung formulieren, ist kaum eine Phase des deutschen Sports so gut erforscht wie die während des NS-Regimes. Ist so gesehen dazu nicht schon längst alles erforscht, geschrieben und gesagt?
Dr. Schäfer: Nein, das denke ich nicht. In der Einleitung heißt es, nur bei flüchtiger Betrachtung scheint dieser Abschnitt der Sportgeschichte gut erforscht. Zwar begann die in der Sportwissenschaft verankerte Sporthistoriografie bereits in den 1970er Jahren mit der Untersuchung der NS-Vergangenheit, wobei sie sich auf den Vereins- und Leistungssport in den gleichgeschalteten Verbänden des Deutschen, ab 1938 Nationalsozialistischen Reichsbundes für Leibesübungen (DRL/NSRL) konzentrierte. Daneben liegt eine kaum überschaubare Menge kleiner Beiträge, Aufsätze, Miszellen und Zeitungsartikel zu diversen Aspekten des NS-Sports vor; der hierzulande beliebte Fußball steht im Fokus forcierten Interesses. Doch mangelt es in der Sportwissenschaft an modernen Monographien, Verbandsgeschichten und Biographien von Sportfunktionären und -wissenschaftlern, deren Karrieren oft über den Zusammenbruch des NS-Regimes hinaus reichten. Immerhin belegt die Vielfalt kleiner, auch journalistischer Beiträge das ungebrochene und breite öffentliche Interesse an der Geschichte des Sports im Nationalsozialismus[1] – umso erstaunlicher sind die Lücken in der sportwissenschaftlichen Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit von Sport und Sportwissenschaft.
In der Geschichtswissenschaft dagegen wurde die Sporthistoriografie bis in die 1990er Jahre kaum beachtet, journalistische Beiträge zur Sportgeschichte gar nicht. In Darstellungen der NS-Geschichte kam Sport kaum vor. Allenfalls wurden die Olympischen Spiele von Berlin 1936 erwähnt und in Übereinstimmung mit der internationalen Forschung und Zeitzeugen aus aller Welt als Herrschaftsrepräsentation und Propagandaveranstaltung des NS-Regimes, als „schöner Schein des Dritten Reichs“ verstanden.[2] Doch existieren weitere Bezüge zwischen der Sport- und der Herrschafts-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Nationalsozialismus. Sport (und Sportwissenschaft) dienten der regimegetreuen Gestaltung von Arbeit und Freizeit, Wehrertüchtigung und Kriegführung, Eugenik und Rassehygiene, der Inszenierung von Volksgemeinschaft und Geschlechterordnung, Körperkonzepten und Ästhetik. Die Masseninszenierungen des NS-Regimes bis hin zu den Reichsparteitagen bedienten sich sportlicher Darbietungen; Sportveranstaltungen boten Gelegenheit zur Repräsentation von Herrschaft nach außen und innen. Sport lieferte Symbole und Metaphern, mit denen sich Aspekte der nationalsozialistischen Weltanschauung leicht verständlich versinnbildlichen ließen. Über Sport konnte das Regime Freizeitgestaltung normieren und kontrollieren. Auch deshalb setzte es in der schulischen und außerschulischen Erziehung bewusst auf Sport. Nicht zuletzt schien vermehrte Sportausübung die Ausbildung des „neuen Menschentyps“, wie er nach 1933 gefordert wurde, zu begünstigen, förderte Sport neben Gesundheit, Kraft und Ausdauer doch auch psychische Qualitäten wie Leistungswillen, Entschlussfreudigkeit und Durchsetzungsfähigkeit. Die positiven sportlichen Körperbilder des Nationalsozialismus verweisen zudem auf seinen Rassismus: Gesunde, „arische“ Körper kontrastierten mit propagandistisch verzerrten Körperbildern unerwünschter, angeblich kranker oder „rassisch minderwertiger“ Menschen. Selbst scheinbar harmlose Darstellungen sportlicher Körper stehen im Kontext dieser NS-Propaganda. Der Sport im NS-Regime muss daher in sozialer, kultureller und politischer Perspektive als Faktor nationalsozialistischer Herrschaftspraxis, seines Gesellschaftsmodells und seiner kulturellen Konzepte analysiert werden.
Dabei war die NS-Sportpolitik nicht in jeder Hinsicht neu. Schon die bürgerlichen Verbände im Kaiserreich hatten sich an der Schaffung des halbstaatlichen antisozialdemokratischen und militärpropädeutischen Jungdeutschlandbunds beteiligt. So scheint konsequent, dass sie 1933 die organisatorische Grundlage des NSRL lieferten, auch, dass die Jugendabteilungen der Vereine mit ihren Betreuern 1936 in die NS-Staatsjugend eingegliedert wurden. Obwohl die hier angedeuteten Transformationsprozesse des Sports bei seiner Einpassung in das NS-Regime mit einem hohen Maß an organisatorischer und personeller Kontinuität geschahen, sind sie weder auf organisationsgeschichtlicher noch auf biographischer Ebene ausreichend untersucht. Das gilt auch für die Umformung von Sport und Sportwissenschaft für die Gesellschaften der Bundesrepublik und der DDR nach 1945. Hier zeigt sich eine weitere Dimension der deutschen (Sport-) Geschichte: das Kontinuitätsproblem. Diese unvollständige Skizze möglicher Perspektiven zeigt, dass mit der Sportgeschichte ein weites Feld seiner Erschließung durch die historische Forschung noch harrt.
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gefunden. Sie war versteckt auf einem Dachboden und ist noch gut erhalten.
Es gibt mehrere Meinungen warum sie versteckt war!
Können Sie uns helfen? Wurden eventuell Radfahrvereine von den Nazis verboten?
Mit besten Grüßen! A. Otto