Lateinamerika wird zurzeit von Unruhen und Regierungskrisen geschüttelt. War lange Zeit Venezuela im Fokus der Aufmerksamkeit, sind es nun Proteste in Ländern wie Chile, Bolivien, aber auch Uruguay, Peru und Ecuador die in den Blickpunkt der Öffentlichkeit geraten. Was sind die Ursachen dafür, dass beispielsweise in Chile, einem Land, das lange als stabil galt und als Musterland in Lateinamerika gehandelt wurde, plötzliche die Menschen massenweise auf die Straße gehen und für einen umfassenden Wandel demonstrieren? Wir haben diese und anschließende Fragen Stefan Rinke, Professor für die Geschichte Lateinamerikas von der FU Berlin, gestellt.
"Die Krisen in Lateinamerika haben vor allem eine soziale Dimension"
L.I.S.A.: Herr Professor Rinke, in Südamerika überschlagen sich nicht erst seit gestern die Ereignisse. Die Regierungen in mehreren südamerikanischen Staaten durchleben zurzeit Krisen - unter anderem in Venezuela, in Chile, Uruguay, Peru, Ecuador und in Bolivien. So unterschiedlich die Gründe für Unzufriedenheit und Unruhen in den jeweiligen Ländern sind, sehen Sie da irgendwo eine Gemeinsamkeit? Gibt es einen oder mehrere übergreifende Gründe für die gegenwärtigen politischen Krisen in Südamerika?
Prof. Rinke: Die soziale Ungleichheit und die teils korrupten politischen Systeme sind die tiefere Ursache für die Krisen in Lateinamerika, die nicht nur eine politische, sondern vor allem auch eine soziale Dimension haben. Zweifellos geht es vielen Menschen in der Region in den letzten Jahrzehnten tendenziell besser als früher, doch hat sich die Erwartungshaltung an die Regierenden verändert. Durch die bessere Ausbildung und die neuen Kommunikationsmittel sind die Menschen heute besser informiert und fordern ihre Rechte ein. Die Aktivitäten vieler nicht-staatlicher Organisationen haben dafür gesorgt, dass sie dafür auf die Straße gehen und kämpfen.