L.I.S.A.: Dann also nochmals zu den Unterschieden zwischen Fußball und Religion. Fußballsport bedeutet Wettkampf, Leistungsvergleich und es gibt Gewinner und Verlierer. In der christlichen Religion und vor Gott selbst sind dagegen alle Menschen gleich. Gewinner und Verlierer gibt es nicht.
Dr. Herzog: Es ist ebenso erstaunlich wie interessant, dass die Sozialmodelle des bürgerlichen Fußballs und der christlichen Religion prinzipiell große Ähnlichkeiten aufweisen. In der Tat zählen auf dem Platz nur die Leistung im Wettkampf und die Leistungsunterschiede, die Sieger und Verlierer hervorbringen. Aber der Zugang zum Fußball als Wettbewerb und zum Fußball als Vergesellschaftungsform in den Vereinen des Deutschen Fußball-Bundes ist für alle Menschen gleich. Herkunft, soziale Stellung, Alter, Hautfarbe, berufliche Position, Bankkonto, das alles ist egal, es ist für die Leistung auf dem Platz absolut irrelevant. Ob Tellerwäscher oder Millionär – alle können im Fußballverein ihre Heimat finden. Das gilt auch für die passiven Mitglieder, die den Sport nicht ausüben. Dieses egalitäre Sozialmodell des Fußballs folgt strukturell dem paulinischen Verständnis der christlichen Gemeinde. Demzufolge zählt allein der Glaube an Jesus Christus. Auch in diesem Sozialkontext ist es egal, ob jemand arm oder reich ist, von Juden oder Griechen abstammt oder welchen Beruf er ausübt. Zugespitzt gesagt: Vor Gott und dem Ball sind prinzipiell alle gleich.
L.I.S.A.: Wie sieht es mit Blick auf die Frauen aus?
Dr. Herzog: Grundsätzlich gilt das natürlich auch für Frauen! Vor Gott sind gemäß der Botschaft Jesu alle gleich, ohne Ansehen der Person. Paulus hat das in den Briefen an die Galater (3,26–28) und an die Römer (2,9–11) prägnant auf den Punkt gebracht. Dabei bezieht sich Paulus ausdrücklich auch auf die Gleichheit von Mann und Frau. Aber das Christentum hat sich, da haben Sie natürlich Recht, ebenso wie der Sport mit der Gleichberechtigung der Geschlechter schwer getan. Der viele Jahrzehnte währende Ausschluss der Frauen aus dem Fußballspiel und den Ämtern in den Kirchen zeigt es. Dieser Ausschluss war absolut willkürlich und er widersprach zutiefst den Prinzipien des Sports.
L.I.S.A.: Menschen heiraten im Stadion, feiern im Fanclub oder lassen sich auf Vereinsfriedhöfen beerdigen. Eine Ihrer Thesen lautet: Fußballclubs integrieren die Fans durch alle Lebensstadien hindurch und erfüllen Leistungen, die auch von Religionen erbracht werden. Wie verstehen Sie das?
Dr. Herzog: Für viele zeichnet sich Kirche dadurch aus, dass sie ihre Mitglieder von der Wiege bis zur Bahre begleitet. Ihre Riten und Sakramente bestimmen das Leben mit und gestalten die Höhe- und Wendepunkte. Die Leistung, die Kirche hier erbringt, ist etwas, das auch in Fußballclubs zu sehen ist. In eine wachsende Zahl von Stadien wie in Gelsenkirchen bei Schalke 04 oder in Frankfurt werden Kapellen integriert, in denen sich Fußballfans trauen und ihre Kinder taufen lassen. Oder nehmen Sie die fußballbegeisterten Väter. Sie versuchen gleich nach der Geburt den Sohn oder die Tochter als Mitglied im Verein einzuschreiben. Der Sprössling trägt von klein auf den Strampler in Vereinsfarben und saugt an einem Schnuller mit Vereinslogo. Die Kleinen werden quasi mit der Muttermilch in den Fußballclub inkulturiert. Und wenn wir vom Lebensanfang auf das Lebensende schauen: Hardcore-Fans können sich in Europa und Südamerika mittlerweile auf eigenen Fan-Friedhöfen, samt Vereinshymne, Fan-Schal und anderen geliebten Fanartikeln als Grabbeigaben in „garantiert bespielter Erde“, also in aussortiertem Stadionrasen, bestatten lassen. Damit konstituiert der Fußball ebenso wie die Kirchen Lebensordnungen, in die der Einzelne von der Wiege bis zur Bahre eingebettet ist.
L.I.S.A.: Und wie gestaltet sich die ganze lange Zeit zwischen Geburt und Tod?
Dr. Herzog: Der Fußball bringt Lebensordnungen in Zeit und Raum hervor. Die Fans leben in der Erinnerung an die vorherigen Spieltage und in der Erwartung der kommenden. Sie leben in einer eigenen Zeitordnung, dem Spieljahr – so wie die Christen sich an den Festen des Kirchenjahrs orientieren. Das Kirchenjahr und das Spieljahr haben gemeinsam, dass ihr Beginn und ihr Ende sich nicht mit dem ersten und letzten Tag des Kalenderjahrs decken. Und wie die Christen die Kirchengebäude als räumliche Zentren ihres Lebens verstehen, so ist das Stadion des eigenen Fußballclubs für den Fan der Nabel der Welt, und dieses Zentrum wiederum ist in ein ganzes Netz von Stadien eingewoben, in denen die konkurrierenden Vereine spielen.
L.I.S.A.: Aber dennoch beantworten Sie die Frage, ob Fußball eine Religion sei, negativ?
Ja, in der Tat. Bis jetzt jedenfalls. Fußball als Gemeinschafts- und Lebeensordnung erbringt zwar Leistungen wie die Kirchen und Religionen, aber es mangelt ihnen an „übernatürlichen“ Personen und Kräften, an Transzendenz also. Und das ist ein starkes Argument. Aber vielleicht lasse ich mich ja überzeugen und ändere meine Position auf unserer Tagung? Wir werden sehen!
L.I.S.A.: Welche thematischen Schwerpunkte setzen Sie bei der Tagung?
Dr. Herzog: Wir beginnen mit zwei Einheiten zur Geschichte der Konkurrenz von Religion und Fußball, über die wir anfangs sprachen. Über Judentum und Sport „im Wettbewerb der Religionen“ referiert der Sozialhistoriker Mosche Zimmermann aus Jerusalem, übrigens ein bekennender Fan des HSV. Etliche Vorträge erörtern an sehr schönen Beispielen den Personenkult im Fußball. Neue empirische Forschungen über die Pilgerfahrten zu Auswärtsspielen präsentiert Gary Amstrong aus London. Und zum Schluss sind Vorträge über die Verarbeitung unseres Themas in den Künsten und Medien vorgesehen.