L.I.S.A.: Sie machen in Ihrer Arbeit deutlich, dass durch die mit der transatlantischen Kolonisation verbundene Sklaverei Nicaragua an den Prozess der Globalisierung an-geschlossen wurde – mit nahezu ausschließlich negativen Folgen für Land und Leute. Heute gehört die nicaraguanische zu den ärmsten Gesellschaften Lateinamerikas. Alles eine Folge der Kolonisation?
Dr. Ahlert: Auch wenn es plakativ klingen mag: Eindeutig ja.
Nicaragua war zum Zeitpunkt der Eroberung das bevölkerungsreichste Land Zentralamerikas. Die pazifischen Bevölkerungsgruppen verfügten über eine ausdifferenzierte Sozialstruktur, eine hochentwickelte Gesetzgebung, eine Bilderschrift und astronomische und medizinische Kenntnisse, durchaus mit den Azteken Mexikos vergleichbar. Der Einbruch der Europäer beeinflusste jeden Aspekt des indigenen Lebens, wenn auch in einigen Bereichen eher indirekt bzw. nicht bewusst provoziert. Am gravierendsten für Nicaragua war ja der dramatische Bevölkerungsrückgang von 600.000 Einwohnern zur Zeit der Entdeckung auf etwa 8.000 im Jahr 1578. Es hatte also nicht einmal 60 Jahre gebraucht, um Nicaragua nahezu zu entvölkern. Allerdings ist dies nicht allein bzw. nicht einmal hauptsächlich auf die Sklaverei zurückzuführen, als vielmehr auf ein verheerendes Konglomerat von Ursachen bestehend aus Epidemien, Arbeitszwang und schlechten Arbeitsbedingungen, Zerstörung des Sozialgefüges, Hungersnöten (z.B. durch die Etablierung von exportorientierten Monokulturen, die die Nutzflächen zum Anbau der notwendigen Nahrungsmittel beschränkten und außerdem die indigene Arbeitskraft banden) und letztlich auch der Flucht der indigenen Bevölkerung aus dem spanischen Einzugsgebiet vor dieser aussichtslosen Situation.
In der gesamten Kolonialzeit gelang es Nicaragua nicht, sich von dieser Zäsur zu erholen. Dafür sind letztlich sehr viele Faktoren verantwortlich, aber alle, seien es Piraterie oder in und um Nicaragua ausgetragene europäische Rivalitäten, welche das Land isolierten, seien es weiterhin ausnehmend schlechte Arbeitsbedingungen in encomienda und repartimiento oder Hunger und weitere Epidemien, alle diese Faktoren begründen sich letzten Endes aus der europäischen Anwesenheit. Selbst die Mosquitoküste, an der sich ein völlig anderes, nicht auf bedingungslose Unterwerfung gerichtetes, Kolonisierungsmodell vollzog und der Kontakt mit den Europäern, vor allem den Engländern, vielmehr auf Freiwilligkeit, gegenseitiger Akzeptanz und Handel beruhte, konnte sich letztlich den negativen Auswirkungen der Kolonisation nicht entziehen.
Nicaragua wurde und wird stets als Peripherie gesehen, es wurde von den europäischen Mächten von Beginn an lediglich als großes Arbeitskräfte- und Rohstoffreservoir genutzt, was sich bis heute vor allem in fehlender Infrastruktur ausdrückt. Es gibt wenig Industrie, die medizinische Versorgung der Bevölkerung ist schlecht, die Bildung verbessert sich nur schleppend. Kurzum, die Armut Nicaraguas ist struktureller Natur, es wurde in vielen Fällen bewusst die Herausbildung einer Struktur verhindert, die es dem Land gestattet hätte, für sich selbst zu sorgen. Vielmehr standen immer europäische und später US-amerikanische Interessen im Vordergrund, Reagan bezeichnete Nicaragua noch 1983 als Vorgarten der USA. Klar ist auch, dass die Kolonisation Nicaraguas nicht mit der Unabhängigkeit beendet war. Nicaragua war sowohl geostrategisch als auch wirtschaftlich viel zu wichtig, um es in eine tatsächliche Unabhängigkeit zu entlassen. Frank Niess spricht gar von einer erneuten Eroberung Nicaraguas durch die USA. Vor allem ein möglicher Nicaragua-Kanal, welcher Waren- und Militärtransporte deutlich verkürzen würde, führte zu einer stark interventionistischen Politik der USA in Nicaragua. Die USA mischten sich in die nicaraguanische Regierungsbildung ein, sie intervenierten militärisch und wirtschaftlich, finanzierten die paramilitärische Bewegung der Contras und hatten einen großen Anteil an dem Wandel Nicaraguas zu einer vom Weltmarkt und den USA abhängigen Plantagenökonomie, welche sogar auf die Einfuhr externer Lebensmittel angewiesen ist. Die Folge dieser Interventionspolitik von Seiten der USA war ein fast permanenter Kriegszustand und Aufstände, Hunger und ein Exodus der nicaraguanischen Bevölkerung, um diesen Lebensbedingungen zu entgehen.
Wenn Sie mich also fragen, ob Nicaragua infolge der Kolonisation zu den ärmsten Gesellschaften Lateinamerikas gehört, so kann die Antwort nur ja lauten. Diese Kolonisation hält auch bis zum heutigen Tag an und wird in jüngster Zeit durch einen weiteren Protagonisten ergänzt. Ein chinesischer Investor hat sich die Kanalbaurechte gesichert. In den entsprechenden Verträgen gibt Nicaragua erneut weitreichende Elemente seiner Souveränität aus der Hand und beschneidet Rechte seiner eigenen Bevölkerung. Es ist zu befürchten, dass Nicaragua auf Dauer fremdbestimmt bleiben wird.