L.I.S.A.: In Deutschland hat Christopher Clark mit seinem Bestseller „Die Schlafwandler“ das Tor für neue Interpretationen des Ersten Weltkriegs geöffnet. Wie schätzen Sie die Bedeutung seines Buches ein?
Pöppelmann: "Die Schlafwandler" sind natürlich brillant geschrieben und enthalten eine Menge wirklich sehr interessanter und diskutierenswerter Fakten und Ansichten. Aber ihre Dominanz in den Medien, gewisse Unwuchten in der Darstellung und eine Vermarktungskampagne, die ganz auf eine Neubewertung der Schuldfrage abzielt, machen sie auch höchst problematisch.
Angesichts von mehr als 200.000 verkauften Exemplaren wird allzu oft vergessen, dass es sich trotzdem um eine Einzelstimme zum Thema handelt. Auch hat sich keineswegs der Rest der Wissenschaft - wie das teilweise von den Medien suggeriert wurde - Clark vorbehaltlos angeschlossen. Seine Kritiker monieren vor allem die lückenhafte Darstellung Deutschlands und auch ich dachte beim Lesen ständig: "Moment mal, wenn man dieses oder jenes Dokument in Betracht zieht, dann ergibt sich aber ein anderes Bild." Sehr befremdlich fand ich auch das überaus weitreichende Verständnis für Österreich einerseits und die große Geringschätzung für die englischen Vermittlungsvorschläge auf der anderen Seite. Oder auch die Tatsache, dass einer Generalabrechnung mit Serbien keine adäquate Kritik am Imperialismus der Großmächte gegenübersteht. Vor allem aber frage ich mich, warum Clark es zugelassen hat, dass sein Buch explizit als Neubewertung der Schuldfrage vermarktet wurde, während er selber in seinem Vorwort - und auch in späteren Interviews - dafür plädierte, dass man nicht die Frage nach der Schuld ins Zentrum stellen sollte, sondern WIE es zum Krieg kommen konnte.
Andererseits war vielleicht nicht wirklich absehbar, welche Resonanz dieser Marketing-Trick haben würde. Mich jedenfalls verblüfft es maßlos, was für leidenschaftliche Aufwallungen die Möglichkeit auslöst, dass man die eigene Nation vielleicht an einem Ereignis, für das sich bis dato fast niemand interessiert hat, nicht ganz so schuldig sein könnte, wie das - angeblich - immer behauptet worden ist. Die Medien sind darauf angesprungen wie die Pawlowschen Hunde, aus einem "Konsens über eine deutsche Hauptverantwortung" wurde umgehend ein "Dogma der Alleinschuld", das es zu bekämpfen galt, und die Internetforen quollen über von Bemerkungen wie "Endlich sagt mal einer, dass die anderen (mindestens) genauso schuld sind" und Schlimmerem. Wer es wagte, an einer Hauptverantwortung der Mittelmächte festzuhalten, wurde mit bizarren Totschlagargumenten wie "Schuldstolz" niedergemacht. Auch der internationale Blickwinkel, für den Clark so gelobt wurde, reduzierte sich ziemlich schnell darauf, die Rolle der "Anderen" im Hinblick auf eine Be- oder Entlastung Deutschlands zu betrachten. Dafür fühlen sich zunehmend Wissenschaftler aus dem Ausland bemüßigt, die "neue deutsche Kriegsschuldiskussion" zu kommentieren und teils tun sie das auf eine Weise, die mich befürchten lässt, dass unser Image als eine Nation, die kritisch mit der eigenen Geschichte umgehend kann, gerade Schaden nimmt.
Das liegt sicher auch daran, dass die Schulddebatte im Stil ähnlich geführt wird wie nach 1918, nämlich als Angelegenheit zwischen den Großmächten. Es scheint nur darauf anzukommen, eine neue Konsensformel für die Schuldverteilung zu finden. Historiker mutieren im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu einer Art Geschichtsanwälte, deren Aufgabe vor allem ist, Be- und Entlastungsmaterial aufzuspüren. Dabei wird Geschichte erst wirklich spannend, wenn man genau und unbefangen hinschaut und nach dem WIE fragt, wie das eigentlich auch Christopher Clark gefordert hat.
Mich zum Beispiel fasziniert besonders die Tatsache, dass die Ultranationalisten und Kriegstreiber in der Krise fast nicht in Erscheinung getreten sind. Stattdessen waren es eher unkriegerische Biedermänner, die Ende Juli glaubten, unbedingt diesen Krieg erklären zu müssen. Wie konnte es soweit kommen? Wie konnten eigentlich intelligente Menschen ernsthaft davon überzeugt sein "Unsere Rüstungen dienen der Sicherheit Europas", während die militärischen Maßnahmen der Gegenseite als glasklarer Beweis gesehen wurden, dass jene einen baldigen Krieg planten? Oder: Wie fatal wirkte sich die große Entscheidungsfreiheit einzelner Personen, vor allem, aber nicht nur der Monarchen aus? Wie wurde aus dem gemeinsamen Bemühen der Großmächte um eine politische Neuordnung auf dem Balkan ein "Pulverfass"?
Es waren eine solche Unmenge von Personen und Institutionen, die 1914 und in den Jahren zuvor versagt haben, dass ich es wenig zielführend finde, Hauptschuldige benennen zu wollen. Stattdessen ist für mich das Zusammenwirken von drei eher psychologischen Phänomenen für einen Großteil dessen verantwortlich, was vor dem Krieg schief gelaufen ist: nämlich "Verkennen, Überheben und Angst." Und im Gegensatz zu den Staatsmännern von damals, egal welcher Nation, ist dieses Trio fatale quicklebendig.