In Echtzeit werden heute Informationen zu den Kriegszerstörungen in der Ukraine zusammengetragen. Live-Mapping und die schiere Menge von geolokalisierbarem Bild- und Videomaterial machen es möglich. So entstehen Kriegsschadenskarten, zu welchen weltweit beigetragen werden kann und die weltweit abrufbar sind.[1]Die Bombardierungen deutscher Städte während des II. Weltkrieges stellten Kommunalverwaltungen, Ministerien und Organisationen des NS-Staates vor bis dato ungekannte Herausforderungen in der Kartierung und Bewertung von Schäden an Gebäuden, Denkmälern und Infrastruktur. Im Gespräch mit Georg-Felix Sedlmeyer (Otto-Friedrich-Universität Bamberg) werden Schlaglichter auf den historischen Quellenkomplex der Kriegsschadenskarten aus den 1940er und 1950er Jahren geworfen. Anlass für das Gespräch bildete der kürzlich publizierte "Atlas Kriegsschadenskarten Deutschland", ein Gemeinschaftsprojekt von Carmen Enss, Birgit Knauer und Georg-Felix Sedlmeyer (Basel: Birkhäuser, 2023, ISBN: 978-3-0356-2500-4).[2]
Kartenwissen für die Kriegsverwaltung und für den Wiederaufbau
Adrian Franco: Herr Sedlmeyer, ich beschäftige mich in meiner Forschung mit Notunterkünften und Flüchtlingslagern.[3] Ich stelle dabei mindestens drei Perspektiven auf die Kartierung von Flüchtlingslagern fest: Aus Sicht von Behörden und humanitären Hilfsorganisationen bringen Karten unterschiedliche Informationen über Bewohner*innen und Hilfsleistungen vor Ort zusammen und ermöglichen auf dieser Grundlage Handlungsentscheidungen, die auf eine Verwaltung des Lagers abzielen.[4] Andererseits existiert kartographisches Wissen unter den Bewohner*innen von Flüchtlingslagern, um diesen Raum bewohnbar zu machen. Im Fall der wilden Camps von Calais in Frankreich haben sich Hilfsorganisationen mit Bewohner*innen zusammengetan, um Kartenmaterial zu erstellen und damit Orientierungshilfen für Geflüchtete anzubieten.[5] Nun fragte ich mich bei der Lektüre des "Atlas Kriegsschadenskarten Deutschland", ob es Kartenmaterial zu Kriegsschäden aus der Zeit des Nationalsozialismus gibt, das nicht von staatlichen Institutionen stammte, sondern von den betroffenen Bewohner*innen selbst hergestellt wurde?
Georg-Felix Sedlmeyer: Auf dem Gebiet des Deutschen Reiches bzw. für die NS-Zeit ist mir dies nicht bekannt. Ein Grund ist sicherlich, dass Kriegsauswirkungen auf deutschem Gebiet aus propagandistischen Gründen der Geheimhaltung unterlagen. Jedwede Information über Zerstörungen hätte schließlich gegen das NS-Regime verwendet werden können, weshalb Kriegsschadenskarten in aller Regel auf kommunale und staatliche Aufträge zurückzuführen sind. Auf private Initiative konnte dies, wenn überhaupt, nur illegal geschehen. Selbst das Anfertigen von Fotographien zerstörter Häuser war unter Strafe gestellt.
Kriegsschadenskarten waren also während des Weltkrieges geheimes Staats- oder auch Verwaltungswissen. Was es aber gab, sind Flucht- und Rettungspläne, sprich Katastrophenpläne, die teilweise öffentlich bekannt waren. Dies betrifft auch Informationen dazu, wie der Schutt aus den Straßen geräumt werden sollte und welche Speditionen für die Bergung von Möbeln eingesetzt werden konnten. Ein Anliegen mancher Kartierung war es, bekannt zu machen, wo Handwerksbetriebe aufzufinden waren, die Schnellreparaturen durchführen konnten. Im Übrigen gaben die Behörden auch Handlungsanweisungen an die Bevölkerung heraus, wie den sogenannten "Selberhelf", einer kleinen Zeitschrift, die in etwa besagte, wie ein Fenster zu reparieren sei.[6] Oder auch: Wie repariere ich ein Dach, mit einfachen oder wenigen Mitteln?
Adrian Franco: Konnten Unternehmen im Nationalsozialismus solche Informationen publizieren, etwa in Form von Karten?
Georg-Felix Sedlmeyer: Nein, in der Regel wurden solche Informationen in der totalitären Kriegswirtschaft hierarchisch von oben kontrolliert. Über die einzelnen Gliederungen der NSDAP, vor allem über die berufsnahen Gliederungen wurden die dort organisierten Unternehmen einbezogen, bzw. zur Mitwirkung verpflichtet, etwa bei Räumarbeiten.
Erst nach Kriegsende sind private, unternehmerische oder behördliche Initiativen zu beobachten: Was beispielsweise den Erhalt von beschädigten Baudenkmälern betraf, führte Fritz Traugott Schulz (1875-1951) am Germanischen Nationalmuseum eigene Listen, um zu erfassen, wo in der Stadt noch Kunst- und Kulturgüter erhalten waren, in welchem Zustand sie sich befanden und welche Maßnahmen eingeleitet werden müssten. Ähnliche Eigeninitiativen sind auch für die damalige Denkmalschutzbehörde in Augsburg belegt. Ich würde also sagen, es handelte sich in den meisten Fällen um gut informierte und vernetzte Expert*innengruppen einer Fachöffentlichkeit.
Während des Wiederaufbaus wurden Kriegsschadenskarten dann in Informationsbroschüren, Fachzeitschriften und Zeitungsberichten, auch in Ausstellungen, veröffentlicht, wenngleich schemenhaft und vereinfacht. Meist in Nachbarschaft mit Flächennutzungsplänen und Wiederaufbauplänen hatte die Rückschau eine Rechtfertigungsfunktion für das, was geleistet wurde oder noch zu leisten war.
Adrian Franco: Sie haben sich in Ihrer Forschung unter anderem mit sogenannten Bausperren in Hamburg und Hannover und der „Toten Zone“ in Hamburg während der Bombardierungen im II. Weltkrieg beschäftigt.[7] Damals konnten Stadtverwaltungen auf großflächige Zerstörungen im Stadtbild reagieren, indem sie ganze Areale in Karten als Sperrzonen auswiesen, in denen zunächst keine weiteren Maßnahmen erfolgen sollten. Welches Kalkül steckte hinter der Ausweisung solcher Gebiete?
Georg-Felix Sedlmeyer: Einerseits würde ich die Priorisierungsfunktion unterstreichen. Verwaltungen brauchten einen Überblick in der Krise über das, was als nächstes zu tun sei. Die Karte konnte das als Medium leisten. Verwaltungen verfügten zu dem Zeitpunkt bereits über kartographisches Wissen aus Friedenszeiten. In Hamburg war die Einrichtung von Sperrzonen polizeilich gewollt: Es ging unter anderem um die Sicherung von Verkehrswegen, die Ausweisung von Zonen, in welchen noch Bomben und Verschüttete zu vermuten waren. In Hannover wollten die Behörden den knappen Baustoff kontrollieren und zusätzlich planerische Freiheit behalten. Sprich, es sollte der noch nutzbare Bauschutt zunächst unter Kontrolle bleiben. Aber es sollte auch ein ungeregelter, wilder Wiederaufbau oder zumindest die Zwischennutzung der Gebiete vermieden werden, damit instandgesetzte Bauten nicht später doch wieder abgerissen werden müssten. Die Zerstörungen gaben vielfach den Anlass dazu, Überlegungen aus der Vorkriegszeit wiederaufzugreifen und das betroffene Areal neu zu beplanen.