Die Schotten stimmen heute darüber ab, ob Schottland aus dem Vereinigten Königreich ausscheidet und unabhängig wird. Nach jüngsten Umfragen ist mit einem Kopf-an-Kopf-Rennen zu rechnen. Sollte sich eine Mehrheit für die Unabhängigkeit entscheiden, sind die Folgen für Schottland, Großbritannien und Europa noch nicht absehbar. Welche Reaktionen sind zu erwarten? Wie werden beispielsweise andere nationale Minderheiten in Europa auf den Ausgang des Referendums reagieren? Wird es Nachahmer geben? Und was bedeutet es für Idee eines Vereinigten Europas, wenn Nationalstaaten auseinanderbrechen? Wir haben den Sozial- und Politikwissenschaftler Prof. Dr. Samuel Salzborn von der Georg-August-Universität in Göttingen gefragt, der unter anderem über Minderheitenpolitik in Europa forscht.
"Von einem aufgeklärten Standpunkt aus irrational"
L.I.S.A.: Herr Professor Salzborn, Sie haben intensiv zur Minderheitenpolitik in Europa geforscht. Das Thema erhält mit Blick auf das Unabhängigkeitsreferendum in Schottland eine neue Aktualität. Bekommt es denn auch eine neue Qualität, sollte sich die schottische Bevölkerung mehrheitlich für die Unabhängigkeit entscheiden?
Prof. Salzborn: Man muss zwischen einer europäischen und einer britischen Perspektive unterscheiden. Die neue Qualität ist sicher für Großbritannien zu konstatieren und beginnt schon bei der Frage, ob es historisch tragfähig bleiben wird, weiterhin von Großbritannien zu sprechen, sollte Schottland nicht mehr Bestandteil des Vereinigten Königreiches sein. Hier ist eine „neue Qualität“ völlig unbestreitbar. Für den Rest von Europa halte ich die Situation für ambivalent: Faktisch ist jeder Minderheitenkonflikt ein spezieller und konkreter, der nicht vergleichbar ist, tatsächlich aber nutzen natürlich alle Automisten, Separatisten und Irredentisten die Differenzierungserfolge in anderen Staaten für die eigene Propaganda. Egal wie das Referendum ausgeht, wäre aus meiner Sicht aber auch einmal ein Perspektivwechsel interessant: die Frage danach, was Minderheiten gewinnen, wenn sie in ihrem Nationalstaat verbleiben, statt ihn infrage zu stellen? Denn gerade vor dem Hintergrund der europäischen Integration sind die sozialen und ökonomischen Forderungen, die die regionalistischen Bewegungen der 1970/80er Jahre noch geprägt haben, also die rationale Dimension der Auseinandersetzung, doch inzwischen weitgehend obsolet und durch ethnopolitischer Homogenitätsschwärmereien ersetzt, die von einem aufgeklärten Standpunkt aus als irrational bezeichnet werden müssen.