L.I.S.A.: Wie sind die Risiken, die mit dem Betreiben von Atomkraftwerken unweigerlich einhergehen - Stichwort: Restrisiko, generell versichert? Gibt es nationale Unterschiede, beispielsweise zwischen Japan und Deutschland?
Wehner: Die Frage lässt sich hier sicherlich nicht erschöpfend beantworten. Grundsätzlich muss man aber zwischen zwei Versicherungsschwerpunkten deutlich differenzieren: Zum einen existieren Versicherungsformen wie etwa die Maschinenversicherung, die den rein technischen Komponenten von Kernkraftwerken gelten. Diese wurden seit den 1960er Jahren weitestgehend ohne größere Probleme als „konventionelle“ Risiken in den Versicherungsschutz einbezogen, in Japan wie der Bundesrepublik gleichermaßen.
Auf der anderen Seite – und dahin zielt wohl Ihre Frage – steht vor allem die Problematik der Haftpflicht gegenüber Dritten, also des potentiellen „Opferschutzes“. Hierzu wurden bereits in den 1950er-Jahren in nahezu allen westeuropäischen Staaten wie auch in Japan und den USA so genannte „Atompools“ ins Leben gerufen, an denen sich einzelne Versicherungsgesellschaften per Quotenrückversicherung beteiligen konnten. Dabei konnte sich die zeitgenössische Versicherungswirtschaft bereits an historischen Vorläufern orientieren, etwa an dem Deutschen Luftpool, der bereits 1924 für die Risiken der Luftfahrt ins Leben gerufen worden war. In der Bundesrepublik ist dies die Deutsche Kernreaktor-Versicherungsgemeinschaft (DKVG), die sich 1957 konstituierte und schon früh an internationalen, auch an japanischen Atomrisiken partizipierte. Diese nationalen Pools, die bis heute existieren und auch untereinander im Risikoaustausch stehen, hatten den Effekt einer weiten Streuung unüberschaubarer Haftpflicht- und Sachrisiken, die keine Versicherungswirtschaft geschweige denn eine einzelne Versicherungsgesellschaft hätte übernehmen können. Sie galten allerdings auch dem Aufbau von Erfahrungswissen, so dass die DKVG zu Anfang allein internationale Risiken rückversicherte, um so an Schadensstatistiken zu gelangen.
Man muss allerdings immer im Blick haben, dass die Gründung der Pools überhaupt nur vor dem Hintergrund staatlicher Haftungsgarantien möglich wurde, die in den 1950er und 1960er Jahren in internationalen Haftungskonventionen und nationalen Atomgesetzgebungen festgeschrieben worden sind. Die Staatsgarantien sattelten auf dem von den Pools angegebenen maximalen Deckungssummen auf (1960: 120 Millionen DM) und ermöglichten so eine „wirtschaftliche“ Prämiengestaltung, wurden jedoch ebenfalls limitiert, etwa im ersten Atomgesetz der Bundesrepublik von 1960 auf 500 Millionen DM pro Schadensereignis und Kernkraftwerk. Damit lag die Bundesrepublik zwar deutlich über den in damaligen internationalen Haftungskonventionen geforderten Summen; über die Adäquatheit dieses Betrags im Verhältnis zu den potentiellen Schäden ist damit allerdings noch wenig gesagt.
Diese Bewertung hängt stark von der jeweiligen Risikowahrnehmung ab, die grundsätzlich nicht objektivierbar ist; aber der mit der Staatgarantie verbundene Vorwurf der indirekten Subventionierung der Atomenergie begleitete deren Geschichte beständig und artikulierte sich besonders stark in den Anti-AKW-Protesten der siebziger und achtziger Jahre. Angemerkt sei in diesem Zusammenhang nur, dass bereits in der ersten umfassenden Risikostudie zur zivilen Kernenergienutzung, dem US-amerikanischen „Brookhaven-Report“ von 1957, ein Erwartungsschaden von 7 Milliarden US-Dollar errechnet worden war – die menschlichen Opfer und Leiden einmal ausgenommen.
Die Struktur dieses Sockelmodells ist bis heute in Grundzügen erhalten geblieben, wenngleich sich die Haftungssummen freilich verändert haben. So liegt der Umfang der von den Betreibergesellschaften aufzubringenden Deckungsvorsorge in der Bundesrepublik gegenwärtig bei 2,5 Milliarden Euro, wovon die private Versicherungswirtschaft 256 Millionen Euro trägt; der übrige Teil wird von den Betreibern durch Solidarhaftung abgedeckt, die seit 1985 zumindest theoretisch auch „unbegrenzt“, d. h. mit ihrem gesamten Vermögen, haften müssen. Das Engagement der Versicherungsgesellschaften blieb im Verhältnis zu den staatlichen Haftungsleistungen indes immer gering und hat sich von den fünfziger Jahren bis heute nur marginal verändert.
L.I.S.A.: Ist es angesichts der verheerenden und nach wie vor nicht beherrschbaren Folgen eines Super-GAUs nicht etwas absurd, eine Versicherung dagegen abzuschließen? Wem hilft das?
Wehner: Eine Versicherung gegen den „Super-GAU“ lässt sich grundsätzlich nicht abschließen und in der Tat wäre dies – da gebe ich Ihnen Recht – auch grotesk. Es wäre auch schon versicherungstechnisch nicht möglich, da Schäden durch Atomenergie seit den 1950er-Jahren aus nahezu allen konventionellen Privatpolicen ausgeschlossen wurde. Mich interessiert in diesem Zusammenhang aber etwas anderes, nämlich, inwiefern diese versagte Möglichkeit der Erlangung von Versicherungsschutz in gesellschaftliche Unsicherheitswahrnehmungen und Risikokonflikte hereinspielt.
Ich gebe Ihnen ein knappes Beispiel: In kernkraftkritischen Kompendien der siebziger Jahre wurde der Versuch einiger Aktivisten weitergereicht, bei einem großen deutschen Versicherungskonzern eine Gebäudefeuerversicherung unter Einschluss des Kernenergierisikos abzuschließen, die dann natürlich unter Verweis auf die Poolung derartiger Risiken verweigert wurde. Die zeitgenössische Popularisierung dieser Anfragen würde ich nun nicht so auslegen, dass verweigerter Versicherungsschutz linear und unvermittelt gesellschaftliche Unsicherheiten erzeugte – damit würde die Reichweite versicherungsökonomischer (Un)Sicherheitsproduktion sicherlich überspannt. Vielmehr scheint sich die Interpretation aufzudrängen, dass hier intendiert war, über einen glaubwürdigen Wirtschaftsakteur und dessen Risikoscheu die Legitimität von Unsicherheits- und Angstartikulationen im öffentlichen Diskurs um die Atomenergie zu stabilisieren, mithin den gängigen Vorwurf der Irrationalität durch eine Prise „rationalen“ Versicherungskalküls zu entkräften.
Die „Grenzen der Versicherbarkeit“ besaßen aus meiner Sicht also primär symbolische Signalwirkungen und wurden im Zuge der ökologischen Wende einem generellen Grenzparadigma eingeschrieben; man denke nur an den Aufsehen erregenden Bericht des Club of Rome über die „Grenzen des Wachstums“ aus dem Jahr 1972.
L.I.S.A.: Welche Rolle spielen die Versicherer als Produzenten und Anbieter von Sicherheit? Welche Spannungsfelder ergeben sich daraus?
Wehner: Dies schließt gewissermaßen an die vorherige Frage an. Zunächst einmal ist zu unterscheiden zwischen versicherungsökonomischen Sicherheiten, die sich aus einer übersichtlichen Risikolage ergeben, und versicherungsvermittelten Sicherheiten, kurzum: zwischen einer ‚Sicherheit’ für die Versicherung und einer ‚Sicherheit’ durch die Versicherung. Im Bereich der konventionellen Risiken ist dieses Verhältnis zumeist mehr oder weniger harmonisch. Im Bereich exzeptioneller Risiken mit kaum zu bemessenden Reichweiten hingegen gerät es ins Wanken, wie auch das obige Beispiel zeigt: Während die Poollösung für die einzelnen Versicherungsgesellschaften eine enorme Risikoentlastung bedeutete, hatte sie zugleich zur Folge, dass ein regulärer Versicherungsschutz nicht mehr gegeben werden konnte.
Dieses Sicherheits-Paradox wurde in den siebziger Jahren angesichts immer größerer technischer Risiken – Bohrinseln, Großflugzeuge oder eben Kernkraftwerke –, aber auch politischer Risiken wie dem Terrorismus auch in der Versicherungswirtschaft als Problemfeld erkannt und bisweilen mit der kulturkritischen Frage kombiniert, ob in einer – wie es hieß – zunehmend irrationalen Gesellschaft die „Versicherung“ als solche überhaupt noch möglich sei. Auch die Frage, inwiefern Versicherungen überhaupt ‚Sicherheit’ produzieren und nicht vielmehr allein kapitalisierte Risikoinformationen anbieten, war hier umstritten.
Grundsätzlich lassen sich Resonanzen der gesellschaftlichen Risikokonflikte aber auch im Versicherungswesen aufzeigen, etwa anhand des in den achtziger Jahren aufkommenden Ansatzes eines erweiterten Risiko-Managements, das auch soziale Faktoren wie die öffentliche Risikoakzeptanz zumindest formal integrierte und dabei auf die Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Risikoforschung zurückgriff, die mit einem stärker auf die Gesellschaft bezogenen Risiko- und Sicherheitsbegriff operierte. Zugleich können aber auch die Grenzen der Sicherheitsproduktion nicht übersehen werden, was den unterschiedlichen Wissensordnungen von Versicherungen und Öffentlichkeit geschuldet ist: So bereiteten aus Versicherer-Sicht in den siebziger Jahren nicht die Risiken der Kernenergie, sondern vor allem potentielle Sabotageakte und Anschläge auf die Kernkraftwerke als versicherte Wertobjekte Anlass zur Sorge, während die Schwerpunkte der öffentlichen Diskussion zuvorderst auf den Strahlen- und Endlagerungsrisiken lagen.
In gewisser Hinsicht werden diese Gräben zwischen versicherungsspezifischen und öffentlich-medialen Risikoaufmerksamkeiten auch aktuell in Japan deutlich: Während die globale Medienöffentlichkeit gebannt auf Fukushima blickt, wird diesbezüglich von Versicherer-Seite kaum ein „Schaden“ erwartet, da Erdbeben und Tsunamis in Japan dezidiert vom Versicherungsschutz für Kernkraftwerke ausgeschlossen sind.
L.I.S.A.: Wie verhält es sich dabei mit den Kosten? Geht eine Versicherung nicht unweigerlich pleite, wenn der Fall eines Super-GAUs eintritt und die Schadenshöhe dreistellige Milliardenbeträge erreicht?
Wehner: Das ist natürlich richtig und genau aus diesem Grund ist die Kernenergie mit dem Versicherungskalkül auch nicht vereinbar und hat stets staatliche Haftungsgarantien benötigt. Dennoch verbietet es sich, unseren heutigen Wissensstand auf historische Situationen zu projizieren, die immer kontingent sind. Es gibt zahlreiche Beispiele für ehemals unversicherbare Gefahren, die dann in versicherbare Risiken transformiert worden sind, etwa das betriebliche Unfallrisiko, wie die versicherungshistorische Forschung gezeigt hat. Letztlich lassen sich Versicherbarkeitsgrenzen nicht absolut setzen, sie sind vielmehr hochgradig variabel und unterliegen einer ganzen Reihe von Faktoren und Stimuli, die in die jeweilige Risikoanalyse hereinspielen.
Auch im Bereich der Kernenergie war es in den fünfziger Jahren keineswegs ausgemacht, dass die Staatsgarantie dauerhaft Bestand haben würde, was der technischen Beherrschungsemphase und der zeitgenössischen Faszination für das „Atom“ geschuldet ist, die auch das Versicherungswesen erfasste. Die Staatsgarantie hatte mithin zunächst den Charakter einer Übergangslösung, die bei einer unübersichtlichen Risikolage Unsicherheiten reduzierte und den Aufbau von Kapazitätspolstern ermöglichte; sie sollte schließlich aber nicht mehr benötigt werden. Dies stellt sich in der Rückschau zwar als falsch heraus, jedoch müssen die zeitgenössischen Wissenskontexte und Erwartungshorizonte bei einer historischen Darstellung natürlich Ernst genommen werden.
L.I.S.A.: Zum Expertenwissen - haben bisherige Unfälle in Atomkraftwerken zu einem Erkenntnisgewinn in punkto Sicherheit beigetragen? Hat sich die Reaktorsicherheit nach anderen Vorfällen woanders verbessert?
Wehner: Ich tue mich als Historiker etwas schwer damit, an dieser Stelle Urteile bezüglich der Reaktorsicherheit abzugeben, die seit den siebziger Jahren neben der Entsorgungsproblematik zu einem der großen Konfliktfelder der Atomdiskussion avancierte. Blickt man auf die zeitgenössischen Debatten, so sieht man allerdings deutlich, dass in dieser Zeit die klassischen sicherheitstechnischen Konzepte in eine gesellschaftliche Akzeptanzkrise geraten sind und die Bedrohungswahrnehmungen und Super GAU-Szenarien einer wachsenden atomkritischen Öffentlichkeit nicht mehr befriedigen konnten. Der Umwelthistoriker Frank Uekötter hat in diesem Zusammenhang von einem geschulten „Denken in Horrorszenarien“ gesprochen, das mit den aufwendig gestalteten, aber auch undurchsichtigen Fehlerbaum- und Wahrscheinlichkeitsanalysen der zeitgenössischen Sicherheitstechnik und Risikoforschung nicht in Einklang zu bringen war.
Paradoxerweise war es mit Wolf Häfele ein prominenter Atomphysiker, der 1974 vor diesem Hintergrund in einem grundlegenden Aufsatz feststellte, dass das „Restrisiko“ wahrscheinlichkeitstheoretisch zwar beliebig klein, aber niemals auf Null gebracht werden könne, sondern vielmehr „Risiken zweiter Ordnung“ erzeuge, die nicht mehr auf der technischen, sondern der soziokulturellen Ebene lägen. Damit signalisierte er zugleich den eigentlichen Schwerpunkt der künftigen Diskussionen um die Atomenergie, nämlich die gesellschaftliche Kommunizierung von Risiken in Gestalt partizipativer Risiko-Dialoge. Dass hier bis heute Defizite bestehen, ist schnell ersichtlich – nicht zuletzt auch am japanischen Beispiel. Möglicherweise resultieren daraus auch der auf den ersten Blick stereotype Charakter und die sich latent wiederholenden Dramaturgien von Risikokonflikten, die unsere Gegenwart beschäftigen
Christoph Julian Wehner hat die Fragen der L.I.S.A.Redaktion schriftlich beantwortet.