Das Konzept der Care Revolution beinhaltet, dass die Gesellschaft von der kapitalistischen in eine zu transformieren ist, in der Sorgebeziehungen hinreichend unterstützt werden, so dass sie bedürfnisgerecht gestaltet werden können. Auch diese Kernaussage – Care Revolution bedeutet eine Transformation auf gesellschaftlicher Ebene in eine nachkapitalistische Produktionsweise – bleibt in Solidarische Care-Ökonomie erhalten; allerdings ist sie um neue Überlegungen erweitert worden.
Diese Entwicklung ist dem politischen Prozess geschuldet, in dem sich das von Gabriele Winker mitgegründete Netzwerk Care Revolution befindet. Seit der Gründung dieses Netzwerks im Frühjahr 2014 ist einiges passiert: Die Häufung klimabedingter Naturkatastrophen, das wachsende Wissen zum Thema und insbesondere die mahnenden Proteste wie Klimacamps, Waldbesetzungen und die Schulstreiks von Fridays for Future zeigen, dass die Zeit drängt, hier einen Wandel in Gang zu setzen. Währenddessen wird die Überlastung Sorgearbeitender immer deutlicher und präsenter. 2014 hatte das Netzwerk Care Revolution noch als eine zentrale Aufgabe, deutlich zu machen, dass es bei diesem Thema nicht um Schuld oder Versagen einzelner Sorgearbeitender, sondern um ein systemisches Problem geht. Die gegenwärtige Skandalisierung der Situation in Krankenhäusern und Pflegeheimen, aber auch der Benachteiligung Familienarbeit leistender Frauen bei der Rente oder der Doppelbelastung durch Home-Office und Kinderbetreuung während Corona, zeigt, dass diese Position in der Bevölkerung mittlerweile breit geteilt wird. Zugleich nimmt die Erschöpfung und das Leiden an den Anforderungen des Neoliberalismus zu.
Zunehmend distanzieren sich Menschen von diesen Anforderungen, etwa durch freiwillige Teilzeitarbeit bei geringerem Konsumniveau. Die Bereitschaft zu alltäglicher Solidarität beispielsweise mit geflüchteten Menschen und das unerwartet verbreitete politische Engagement, wie es sich in Bewegungen wie Fridays for Future oder Black Lives Matter zeigt, weisen zugleich darauf hin, dass es offensichtlich viele Menschen gibt, die für auch grundlegende Veränderungen ansprechbar sind. Jedoch zeigt die parallele Schwäche der gesellschaftlichen Linken, dass es uns gegenwärtig an der Fähigkeit zu eben dieser Ansprache mangelt.
Vor diesem Hintergrund fügt Solidarische Care-Ökonomie dem zuvor erschienenen Buch verschiedene Gedanken hinzu: Zunächst wird parallel zu den Auswirkungen der Überlastung Sorgearbeitender, neoliberaler Sozial- und Familienpolitik und ihrer Ausrichtung auf die Erfordernisse der Kapitalverwertung dieselbe Bewegung aus Überlastung, wachstumsorientierter Politik und Unzulänglichkeit der Maßnahmen in Bezug auf Treibhausgas-Emissionen und Klimapolitik dargestellt. Zudem beschreibt Gabriele Winker nicht nur eine Parallele, sondern entwickelt im Rückgriff auf feministische Theorien die Gleichursprünglichkeit der Überlastung von unentlohnter Sorgearbeit und Ökosystemen. Indem sie zeigt, wie beide gleichermaßen als kostenlose und ohne Rücksicht auf ihre Reproduktionsanforderungen nutzbare Ressource behandelt werden, stellt sie auch wesentlich deutlicher als in Care Revolution die unentlohnte Arbeit ins Zentrum ihrer Analyse wie auch ihrer Transformationsvorstellungen.
Eine weitere Verschiebung folgt aus der Analyse, dass die Zeit für grundlegende Veränderungen drängt und zugleich diese in einer Gesellschaftsform, die auf Konkurrenz beruht und die ohne Wachstum nicht auskommt, nicht möglich sind. Dies herauszuarbeiten, steht nicht von ungefähr im Zentrum des Buches (Kapitel 4 von sieben Kapiteln). Deshalb muss ausgelotet werden, an welchen in der Bevölkerung vorfindbaren alltäglichen Wünschen und verbreiteten Praxen linke, feministische Politik ansetzen kann und wie sie dies tun kann. Während in Care Revolution noch politische Initiativen entlohnt und unentlohnt Sorgearbeitender als Akteur*innen diskutiert wurden, geht es nunmehr schwerpunktmäßig um diejenigen, die Teil systemkritischer sozialer Bewegungen werden sollen. Damit dieses Thema nicht als „Wünsch dir was“ behandelt wird, nimmt Gabriele Winker in der Darstellung den Weg über Anforderungen des Neoliberalismus, Leiden unter diesen Anforderungen und individuelle Strategien des Umgangs mit ihnen bis zu Möglichkeiten der Ansprache und Mobilisierung, die sich hieraus ergeben.
Rosa Luxemburgs Begriff der revolutionären Realpolitik führt Gabriele Winker schon im Untertitel an. Diesem Leitbild entsprechend versucht sie, Schritte zu formulieren, die Menschen handlungsfähiger dort machen, wo sie Probleme verspüren, und die gleichzeitig die Überlastung der Umwelt und der Sorgearbeit verringern. Letztlich sollen diese Schritte aus dem Kapitalismus herausführen. Die einzelnen Elemente – beispielsweise Verringerung der Erwerbsarbeitszeit, bedingungsloses Grundeinkommen, Ausbau und Demokratisierung der Care-Infrastruktur wie Krankenhäuser oder Kitas, Unterstützung alternativer Wohn- und Betriebsformen – sind für sich genommen großenteils nicht neu. In ihrer Zusammenstellung wird jedoch deutlich, dass das Zurückdrängen der Erwerbsarbeit im Zentrum der Transformationsstrategie steht, die in Solidarische Care-Ökonomie formuliert wird. Zudem klopft Gabriele Winker die jeweiligen Schritte daraufhin ab, was sie zur Entlastung Sorgearbeitender und als Beitrag gegen den Klimawandel zugleich leisten. Fluchtpunkt der vorgeschlagenen Transformation ist eine Gesellschaft, die auf Geld und Lohnarbeit verzichten kann und in der „nicht mehr Konkurrenz, sondern Solidarität das zentrale Gestaltungsprinzip ist.“ (S.191)
Reaktionen auf den Beitrag
Kommentar
Dass dabei die Reproduktion zu kurz kommt ist längst offensichtlich. Doch dafür gibt es ja Kriege, die Migranten und Migrantinnen in Hülle und Fülle generieren. Sie sorgen dann rührend für den Nachwuchs einer Gesellschaft, die den Feminismus als letzte Mobilimachung für den totalen Produktionseinsatz nutzt