Die Religion hat in der Moderne einen schweren Stand. War sie über Jahrhunderte hinweg die uneingeschränkte Sinnstifterin menschlicher Existenz, wurde sie im Gefolge der Aufklärung nach und nach von anderen Sinnstiftungsagenturen abgelöst, unter anderen von der Wissenschaft. Inzwischen werden aber auch an dieser Welterklärungsinstanz Zweifel angemeldet, eine Rückbesinnung auf das Metaphysische ist nicht erst seit gestern für viele Menschen wieder eine Option, die eigene Existenz im Kosmos zu verorten. Die Historiker Dr. Martin Klüners und Prof. Dr. Jörn Rüsen haben in diesem Zusammenhang neu über Religion und Sinn nachgedacht und aus unterschiedlichen Perspektiven sich der Frage zugewandt, welche Rolle Religion für den Menschen und seine Seele spielt. In ihrem gemeinsamen Band nähert sich Martin Klüners dieser Frage aus psychoanalytischer Sicht, Jörn Rüsen aus historischer. Wir haben ihnen dazu unsere Fragen gestellt.
"Religion und Seele ein Junktim bilden"
L.I.S.A.: Herr Dr. Klüners, Herr Professor Rüsen, gemeinsam haben Sie einen kleinen Band mit dem Titel „Religion und Sinn“ geschrieben. Damit sind bereits die zwei Leitthemen vorgegeben – und nicht nur das. Der Titel impliziert auch eine gewisse Arbeitsteilung: Herr Klüners hat sich dem Thema „Religion“ ausdrücklicher gewidmet, Herr Rüsen dem Thema „Sinn“. Bevor wir inhaltlich zu Ihren Themen kommen – wie kam es zu diesem gemeinsamen Buch? Was waren die entsprechenden Vorüberlegungen?
Dr. Klüners: Ende 2017 gab es eine Anfrage des Herausgebers der Reihe „Philosophie und Psychologie im Dialog“ an Herrn Rüsen, ob dieser sich vorstellen könne, einen Beitrag zum (vorgegebenen) Thema „Religion und Sinn“ zu verfassen – und ob er ferner einen möglichen Co-Autor vorschlagen wolle. Herr Rüsen hat daraufhin dankenswerterweise mich benannt. Ironischerweise sind also für das Projekt zwei Historiker in die Rollen des „Philosophen“ bzw. des „Psychologen“ geschlüpft. Das ist wohl gelebte Interdisziplinarität.
Prof. Rüsen: Herr Klüners und ich teilen ein Interesse an Geschichtsphilosophie und Religion. Er hat deren Verhältnis zum Thema gemacht und mich dazu motiviert, mich mit dem Thema "Religion" ausführlicher als bisher auseinanderzusetzen. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.
Dr. Klüners: Der Gegensatz von Glauben und Wissen interessiert mich spätestens seit meiner Magisterarbeit, die sich damals den Geschichtsbildern Joachims von Fiore und Ottos von Freising, zweier geschichtstheologischer Autoren des 12. Jahrhunderts, gewidmet hat. Ich war durch die Themenstellung de facto gezwungen, mit den „rationalen“ geschichtswissenschaftlichen Methoden der Moderne „religiöse“ Geschichtsbilder des Mittelalters zu untersuchen. Die inhärente Spannung zwischen „Wissen“ und „Glauben“ wurde durch den sozusagen „hybriden“ Charakter der mittelalterlichen Geschichtstheologie – die faktisches innerweltliches Geschehen heilsgeschichtlich deutet – eher noch verstärkt.
Dass ich kein Philosoph, sondern Historiker bin, erklärt wohl den Impuls, die beiden Begriffe „Glauben“ und „Wissen“ in der vorliegenden Publikation nun entschieden historisch, nämlich unter Zuhilfenahme der empirischen Forschung, zu definieren. Da der Glaube wesentlich älter ist als zumindest die genuin wissenschaftliche Weltbetrachtung, hielt ich die Beantwortung der Frage, was jener eigentlich (historisch) „sei“, für den adäquaten Ausgangspunkt meiner Überlegung. Und ich bin überzeugt, dass eine solche historische Definition nur dann wirklich aussagekräftig ist, wenn sie (im Gegensatz beispielsweise zu Habermas‘ jüngstem philosophischen Rekonstruktionsversuch) weit hinter die Achsenzeit, ja noch hinter das Neolithikum zurückgreift. Vor allem die Religionsethnologie benennt tatsächlich inzwischen recht konkret, was allen Religionen und insbesondere allen pristinen Formen von Religion gemeinsam ist: Religion ist nicht so sehr der Glaube an irgendwelche „Götter“, sondern vielmehr eine Art vorwissenschaftlicher „Seelenkunde“. Das gilt gerade für die frühesten ihrer Manifestationen, die man durch die vergleichende Erforschung von Wildbeuterkulturen mittlerweile einigermaßen gut rekonstruieren kann. (Die mutmaßlich ursprünglichste Form der Religion ist nämlich die religiöse Trance – ein gewissermaßen proto-psychotherapeutisches Heilverfahren).
Damit bestätigt sich im Prinzip eine Vermutung Niklas Luhmanns, der davon ausging, dass Religion und Seele ein Junktim bilden. Die „Seele“, von der zu reden sich zumal die Psychoanalyse wieder ohne postcartesische Scheu getraut, ist folgerichtig diejenige Kategorie, die meines Erachtens auch das Verhältnis von „Glauben“ und „Wissen“ zu erhellen vermag. Dass „Seele“ und „Religion“ übrigens historisch betrachtet etwa zur gleichen Zeit – im 19. Jahrhundert – zum „Problem“ wurden, ist meiner Meinung nach ein zusätzliches Indiz für ihre enge innere Verknüpfung.