In Zeiten von Corona zeigt sich besonders deutlich, wer zurzeit einer Arbeit nachgeht, die unverzichtbar und genauso zu leisten ist wie vor der Krise: Arzt- und Pflegepersonal, Kassiererinnen und Kassierer, Post- und Paketaustragende oder auch Handwerker. Besonders betroffen sind auch diejenigen, deren berufliche Existenz zurzeit gefährdet ist - beispielsweise Menschen, die in der Gastronomie und Hotellerie beschäftigt sind, Veranstalter oder auch Ladenbesitzer. Und dann gibt es andererseits die Tätigkeiten, die sich relativ mühelos vom Büro ins Arbeitszimmer oder in die Küche der eigenen vier Wände verlagern lassen und über Laptop, Internet, Telefonschalten und Videokonferenzen fortgesetzt werden können - zu Neudeutsch: Homeoffice. Die Risiken, die für jede und jeden mit der Corona-Epidemie verbunden sind, sind demnach ungleich verteilt. Auch ungerecht verteilt? Bringt die Coronakrise also eine neue Klassen-Matrix hervor? Wir haben dem Soziologen Prof. Dr. Andreas Reckwitz von der Humboldt-Universität zu Berlin, der in seinen Untersuchungen den Begriff der Klasse als analytische Kategorie reaktiviert hat, diese und anschließende Fragen gestellt.
"Betroffenheit der Individuen ist gegenwärtig von ihrer sozialen Lage abhängig"
L.I.S.A.: Herr Professor Reckwitz, in der gegenwärtigen Coronakrise wird aufgrund des allgemeinen Risikos, sich potentiell mit dem Virus zu infizieren, davon gesprochen, dass wir im Angesicht von Corona alle gleich seien. Es spiele keine Rolle, ob man arm oder reich ist - sich anstecken kann jede und jeder. Lediglich beim Mortalitätsrisiko besteht eine eklatante Kluft: Alte Menschen sind ungleich höher gefährdet als jüngere. Aber die soziale Herkunft spiele derzeit keine Rolle. Sehen Sie das auch so?
Prof. Reckwitz: Zunächst einmal bedeutet die Coronakrise tatsächlich die Erfahrung einer kollektiven Betroffenheit aller in der Gesellschaft, ja sogar eine Art universale Betroffenheit in der Weltgesellschaft. Daraus ergibt sich offenbar teilweise so etwas wie ein neues Kollektivbewusstsein, es wird ja von solidarischer Hilfe berichtet. Es kann durchaus sein, dass ein solches Kollektivbewusstsein auch nach der Krise fortdauert, und etwa Regeln gegenseitiger Rücksichtnahme im Alltag sich auf Dauer stellen.
Aber jenseits dessen ist die Betroffenheit der Individuen gegenwärtig selbstverständlich von ihrer sozialen Lage abhängig. Zum einen gibt es ja Berichte etwa in Bezug auf die USA, dass sozial schwächere Teile der Gesellschaft, in denen auch mehr Vorerkrankungen vorliegen, anfälliger für eine schwere Erkrankung oder gar für den Tod am Virus sind. Zum anderen hängt die Betroffenheit der Individuen offensichtlich stark von den Arbeitsverhältnissen und der Branche ab, in denen sie arbeiten: Personen in der Wissensökonomie können anders mit ihr umgehen als die einfachen Service-Berufe. Es spielen aber noch andere soziale Differenzierungen hinein, so die räumliche Situierung - Stadt oder Land? - oder die Familienverhältnisse (mit Kindern oder ohne?). Die Sozialstrukturanalyse spricht von 'horizontalen Disparitäten', die quer zur Oben-Unten-Matrix verlaufen - und diese Disparitäten addieren sich nun auf, so dass ganz individuelle Betroffenheiten entstehen.