L.I.S.A.: Warum haben sich Juden im Vereinsfußball engagiert – gab es dafür bestimmte Gründe? Gab es auch Bestrebungen jüdische Fußballvereine zu gründen?
Schulze-Marmeling: Fußball begann nicht als Arbeiterkultur, sondern war zunächst beheimatet im Milieu der bürgerlichen Akademiker sowie der neuen – und damit traditionslosen – expandierenden Schicht der Angestellten in den kaufmännischen und technischen Berufen. Anders als in England, wo sich der Fußball bereits in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts zum proletarischen Massenspektakel entwickelte, behielt das Spiel auf dem Kontinent bis in das 20. Jahrhundert hinein seinen Eliten- und Mittelschichtcharakter. Wie die Historikerin Christiane Eisenberg schreibt, verkörperte das frühe Fußballspiel „das spezifisch moderne Lebensgefühl der Jahrhundertwende, insbesondere der Aufsteiger und Selfmademen, die offen für alles Neue waren und sich um Konventionen wenig scherten.“ Für viele sei der Gebrauch der englischen Sprache und die Imitation eines ‚english way of life’ auch der Versuch gewesen, sich von bestimmten überkommenen Mustern der eigenen Kultur wie z.B. der Turnbewegung zu distanzieren.
Fußball war zunächst ein vorwiegend städtisches Spiel – anders als später Handball, das sich als Sportspiel der Turnbewegung und als deren Antwort auf den Fußball auf dem Land ausbreitete, da der Spielplatz in den urbanen Zentren bereits von den Kickern besetzt war. Viele Juden lebten in Städten wie Berlin, Frankfurt oder München. Und viele von ihnen zählten sich dort zum „modernen Bürgertum“, das liberal ausgerichtet war und sogenannten englischen „Modetorheiten“ – wie „english sports“ – frönte. Wobei „english“ oder „british“ mit „modern“ zu übersetzen war. Detlev Claussen, Autor einer wunderbaren Biographie des ungarisch-jüdischen Trainer-Stars Bela Guttmann, einem ehemaligen Hakoah- und MTK-Spieler, der mit Benfica Lissabon 1961 und 1962 den Europapokal der Landesmeister gewann, weist darauf hin, dass die idealen Bürger, die das Bürgertum auch mit seinen Idealen ernst genommen haben, die Juden waren. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wären für das Ghetto eine konkrete Utopie gewesen.
Tatsächlich empfanden viele europäische Juden im 19. Jahrhundert anglophil. Und dies drückte sich auch in ihrer Begeisterung für die ‚english sports’ aus. Exemplarisch für diese anglophile Einstellung deutsch-jüdischer Fußballpioniere ist die Biographie des bereits erwähnten Walther Bensemann, der von seinen Eltern im Alter von zehn Jahren auf eine auch von vielen Engländern besuchte Eliteschule in Montreux geschickt wurde, wo ihn nun die englischen Mitschüler mit dem englischen Spiel infizierten. Zurück in Deutschland gab sich der angehende Student demonstrativ anglophil. In Karlsruhe, wo er sich nun besonders intensiv für die Verbreitung des Fußballs engagierte, wurde er wegen seines sportlichen Outfits „der Engländer in Narrentracht“ genannt.
Bei vielen europäischen Juden traf man seinerzeit auf einen ausgeprägten Sinn für Neues und Modernes sowie eine größere Bereitschaft zur Anerkennung des Leistungsprinzips und des Wettbewerbs – Dinge, die auch im Sport eine zentrale Rolle spielten. Jüdische Milieus waren häufig aufgeschlossener gegenüber den Anforderungen und Herausforderungen der modernen kapitalistischen Leistungsgesellschaft. Und anders als das „deutsche Turnen“ war Fußball das Spiel dieser Gesellschaft. Die Idee des englischen Sports und seines offenen Wettbewerbs stand diametral zum Konzept der alten Ständegesellschaft, in der die europäischen Juden ausgeschlossene Unterprivilegierte waren. Der Sport unterspülte feudale Schranken in der Gesellschaft.
Das Interesse jüdischer Bürger am Sport war außerdem eine Reaktion auf den latenten Antisemitismus. Im Sport sah man die Möglichkeit, gesellschaftliche Integration und Akzeptanz zu erreichen, denn die von historischem Ballast freie Sportbewegung war anfänglich liberaler und weltoffener als die mit traditionell konservativen Werten überladene Turnbewegung. Bei den Turnern eher unwillkommen, orientierten junge Juden auf die neuartigen „sports“, deren englische Herkunft ihnen weniger suspekt denn willkommen war. Außerdem fehlte dem Turnen ein modernes Image. Das Bedürfnis nach individuellen Entfaltungsmöglichkeiten und Eigeninitiative konnte hier kaum befriedigt werden. Turnen war dressierte Bewegung, Fußball war etwas spielerisches.
Zur Frage der jüdischen Vereinsgründungen: Bis zur NS-Machtergreifung waren nur 1 bis 2% der ca. 500.000 deutschen Juden in exklusiv jüdischen Vereinen organisiert. Dies entsprach ihrer politischen Orientierung: nur eine kleine Minderheit war Mitglied der national-jüdischen Bewegung, die überwiegende Mehrheit war im assimilatorisch orientierten Centralverein organisiert. Für die meisten Juden in Deutschland war die Identität, Deutscher und Jude zu sein, eine Selbstverständlichkeit. Bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung betrachteten sich die meisten Juden als deutsche Juden, nicht als Juden in Deutschland. Wo Juden im Fußball Erfolge errangen, taten sie dies – mit wenigen Ausnahmen wie vor allem der Wiener Hakoah - nicht in exklusiv jüdischen Zusammenhängen, sondern in weltanschaulich und religiös neutralen Vereinen.
Dies änderte sich erst mit der von den Nazis betriebenen Segregation von Juden und Nicht-Juden bzw. dem Ausschluss der Juden aus den Vereinen. Juden durften nun nur noch in jüdischen Vereinen Sport treiben, weshalb die bis dahin marginale jüdische Sportbewegung einen enormen Aufschwung erlebt. Insbesondere deren Fußballsparten erfahren Zuwachs. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Der jüdische Textilkaufmann Otto Albert Beer, der in den Weimarer Jahren eine wichtige Rolle beim Aufbau der Jugendabteilung des FC Bayern spielte, es war zeitweise die größte ihrer Art in Deutschland, wird im Juni 1936 Sportwart des Jüdischen Turn- und Sportvereins München – nicht aus freier Entscheidung, sondern weil er beim FC Bayern nicht mehr mitmachen darf. Dem jüdische Nationalspieler Julius Hirsch, der 1910 mit dem Karlsruher FV Deutscher Meister geworden war, erging es ebenso. Hirsch spielte 1934 als 42-Jähriger für den jüdischen Turnklub 03 Karlsruhe.
Dieser Booom der jüdischen Sportbewegung war nur eine Scheinblüte. Die Segregation war nur die Vorstufe zur Vernichtung. Nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 ist für die jüdischen Sportler auch in den jüdischen Vereinen Schluss . Die jüdischen Sportverbände werden aufgelöst.
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Lg Dieter Willen
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