Rassistische Gewalt, durch die Terroranschläge von Halle und Hanau aktueller denn je, hat eine Geschichte in der Bundesrepublik. Die Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ in der ersten Hälfte der 2000er Jahre gehört ebenso zu dieser Geschichte wie die rassistischen Pogrome, Brandanschläge und Übergriffe der frühen 1990er Jahre. Diese Geschichte scheint, und das bringt der verständliche Wunsch nach einer präzisen Datierung gesellschaftlich bedeutsamer Phänomene mit sich, ziemlich exakt im Jahr 1990 mit der deutsch-deutschen Vereinigung ihren Anfang genommen zu haben. Natürlich verweisen mittlerweile diverse Publikationen, Medienberichte und öffentliche Expertisen auf die rassistischen Brandanschläge der „Deutschen Aktionsgruppen“ (1980), das rassistische Attentat von Helmut Oxner in Nürnberg (1982) oder auf den Brandanschlag im bayerischen Schwandorf (1988) – Taten, bei denen insgesamt neun Menschen ermordet wurden, davon acht mit Migrationsgeschichte. Dennoch ist die Datierung „seit 1990“ im Diskurs über rassistische oder auch extrem rechte[1] Gewalt fast schon zum festen Sprachgebrauch geworden. Diese Beobachtung lässt sich zum einen an den zahlreichen wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Publikationen überprüfen, die 1990 als zeitlichen Beginn der Analyse wählen. Die Tendenz kommt aber auch in der zeitlichen Rahmung vieler zivilgesellschaftlicher Projekte und Initiativen zum Ausdruck, die in mühevoller Recherchearbeit die unvollständige offizielle Statistik der Todesopfer extrem rechter Gewalt seit 1990 nachbessern.[2] Auch online manifestiert sich diese chronologische Einengung: Eine wortgenaue Google-Suche nach „rassistische Gewalt seit 1990“ bringt über 1.000 Treffer, die Suche nach „rassistische Gewalt vor 1990“ keinen einzigen.
Rassistische Gewalt in der alten Bundesrepublik
Wer schreibt ihre Geschichte?
Warum es diesen Fokus auf das Jahr 1990 gibt, scheint erst einmal auf der Hand zu liegen: Rassistische Gewalt eskalierte nach der deutsch-deutschen Vereinigung in den frühen 1990er Jahren, wie auch extrem rechte Gewalt im Allgemeinen; Menschen, deren Identität die Täter nicht als „deutsch“ interpretierten, waren in vielen Gegenden der Bundesrepublik tagtäglich lebensgefährlichen Attacken ausgesetzt. Die Zunahme der Gewalt lässt sich auch in den offiziellen Statistiken ablesen, die, obwohl damals eine weitaus engere Definition als heute angelegt wurde, selbst die Zahlen der heutigen Zeit übertreffen. Der unglaubliche Anstieg von fast 2.000 Prozent in nur zwei Jahren – von 128 extrem rechten Gewalttaten im Jahr 1990 auf 2.584 Gewalttaten im Jahr 1992[3] – lässt sich keineswegs lediglich mit einem gestiegenen Problembewusstsein und größerer Sensibilität für das Thema erklären. Er verweist auf eine ganz reale und neue Qualität der Gewalt.
Es soll in diesem Beitrag also keineswegs darum gehen, die ungeheure Intensität der Gewalt der frühen 1990er Jahre in Frage zu stellen. Der Beitrag will vielmehr eine Leerstelle in der Geschichtsschreibung der alten Bundesrepublik identifizieren, wenn er auf die Vorgeschichte dieser Gewalteskalation verweist, nämlich eine große, bislang unbekannte Anzahl rassistischer Übergriffe und Straftaten in Westdeutschland in den 1980er Jahren – gleichermaßen sollte der Blick auch auf die Situation in der DDR gerichtet werden, dieser Beitrag will sich aber explizit mit Westdeutschland befassen. Es tut sicherlich dringend Not, die Gründe genauer zu untersuchen, warum wir heute vor einer solchen Leerstelle stehen, die sich einreiht in eine generell defizitäre Rassismus-Geschichtsschreibung. An dieser Stelle aber sollen vor allem Überlegungen im Vordergrund stehen, welche neuen Perspektiven die Geschichtswissenschaften einnehmen könnten, um die Lücke zu füllen.
Von welcher Dimension rassistischer Gewalt in Westdeutschland sprechen wir überhaupt, wenn wir die Jahre vor 1990 in den Blick nehmen? Das Wissen darüber ist gering. Es existiert keine vollständige Statistik über Todesopfer rassistischer Gewalt zwischen 1945 und 1990 (so wie es auch noch keine Statistik über Todesopfer extrem rechter oder rechtsterroristischer Gewalt vor 1990 gibt); auch eine eindeutige Zuordnung in den Kriminalitätsstatistiken des Staatsschutzes wurde erst später eingeführt.
Doch erste Annäherungen offenbaren eine Vielzahl an bislang unbekannten rassistisch motivierten Gewalttaten, zumindest seit den 1970ern, als die extreme Rechte in Deutschland zunehmend das Thema Migration in den Fokus nahm.[4] Beispielsweise listete der Verfassungsschutzbericht des Bundes für das Jahr 1982 insgesamt 34 rassistisch motivierte Gewaltakte auf: In der Silvesternacht 1981/82 schlugen rechtsgerichtete Rocker einen türkischen Staatsangehörigen tot. Von den rund 20 Sprengstoff- und Brandanschlägen mit extrem rechten Hintergrund, die 1982 festgestellt wurden, waren die meisten rassistisch motiviert: so etwa Sprengstoffanschläge in Darmstadt, Geseke, Berlin und Hilden – alle gegen Unterkünfte und Wohnungen – sowie Brandanschläge auf PKWs, Wohnhäuser und ein Restaurant in Neu-Ulm, Bielefeld, Leverkusen, Köln und Göttingen. Im nordrhein-westfälischen Witten gab es im Februar 1982 eine Anschlagsserie gegen türkische Geschäfte, Einrichtungen und Wohnungen „mit erheblichem Sachschaden“.[5] Im Folgejahr, 1983, berichtete der Verfassungsschutz von zwei Übergriffen auf türkische Arbeitsmigranten mit Schwerverletzten und von 16 Sachbeschädigungen mit erheblicher Gewalteinwirkung, also in der Regel Brand- oder Sprengstoffanschläge.[6] Im Juli und im Dezember 1985 ermordeten neonazistische Skinheads in Hamburg zwei junge Türken – Taten, die zumindest zeitgenössisch für Debatten sorgten, aber bis vor kurzem fast in Vergessenheit geraten waren.[7] Auch in den Folgejahren kam es zu diversen Brandanschlägen, deren genauen Hintergründe und Verläufe bislang unbekannt sind, so etwa 1986 und im Januar 1987 neun Brandanschläge auf Unterkünfte von Geflüchteten allein in Niedersachsen.[8]
Solche Auflistungen, die aus den offiziellen Dokumenten herausgefiltert werden konnten, umfassen freilich nicht das große Dunkelfeld an rassistisch motivierten Gewalttaten, die nicht zur Anzeige gekommen sind oder bei denen die Ermittler kein politisches Motiv annahmen. Zu letzterer Gruppe zählt ein Brandanschlag auf ein von türkeistämmigen Menschen bewohntes Haus im August 1984 in Duisburg, bei dem es Hinweise auf eine rassistische Motivation gibt.[9] Bei dieser Tat starben sieben Menschen, darunter vier Kinder; fast eine gesamte Familie wurde ausgelöscht, doch das öffentliche Interesse war gering.
Diese Annäherung soll eines verdeutlichen: Rassistische Gewalt existierte in der „alten“ Bundesrepublik. Offen bleiben viele weitere Fragen: nach der Gesamtzahl der Taten, nach den Tätern, nach den Opfern, und danach, wie die westdeutsche Gesellschaft mit der wachsenden „ausländerfeindlichen Gewalt“, wie man es damals nannte, umging.
Diese offenen Fragen führen zu einigen Überlegungen, vor welchen Herausforderungen die Geschichtswissenschaft steht, um diese Forschungs- und Wissenslücken zu füllen.
Ich plädiere erstens dafür, die „Zäsur 1990“ kritisch zu reflektieren und ihr vor allem eine Vorgeschichte zu geben. Angesichts zahlreicher vergessener rassistischer Gewaltakte im Westdeutschland der 1980er Jahre drängt sich die Frage auf, inwieweit nicht eine solche kontinuierliche Rassismus-sensible Erzählung über die Bundesrepublik angemessener wäre. Solche neuen Perspektiven hinterfragen zugleich auch eine Erzählung, die sich mit der Setzung der Zäsur „1990“ als wirkmächtiges Narrativ immer wieder in den Vordergrund drängt: Dass die rassistische Gewalt mit der Vereinigung, also mit dem Dazukommen des Gebiets der ehemaligen DDR, quasi importiert wurde und somit überhaupt erst zu einem größeren Problem für die „alte“ Bundesrepublik geworden ist.
Vor dem Hintergrund dieses Diskurses spricht vieles dafür, bei einer Geschichtsschreibung rassistischer Gewalt die Geschichte beider Deutschlande zusammenzudenken und dabei allzu simplifizierende Interpretationsangebote kritisch zu hinterfragen. Rassismus oder Rechtsextremismus „als ursächlich in der DDR zu verorten“ dient im aktuellen Diskurs auch als geschichtspolitisches Instrument, um die DDR zu diskreditieren, schreibt die Historikerin Carsta Langner. Eine „Rekonstruktion von Kontinuitäten und Brüchen rassistischer Ressentiments und rechter Gewalt innerhalb der zwei deutschen postfaschistischen Gesellschaften“ gestalte sich überaus komplex.[10] Dem kann ich nur zustimmen. Auch die bundesdeutsche Geschichtsschreibung ist nun gefragt, um nicht ein schiefes Bild zu (re)produzieren: Ein Bild, in dem der erfolgsgeschichtlichen Erzählung der Bundesrepublik Deutschland, die ihre gesellschaftlichen Probleme gelungen bewältigte, als Gegenentwurf die DDR gegenübergestellt wird, die durch Verschweigen und Verharmlosung die rassistische Gewalt nach 1990 überhaupt erst möglich gemacht habe.
Dass so wenige zeithistorische Untersuchungen[11] über die Situation in der alten BRD vorliegen, hat aber auch mit der Indifferenz der damaligen politischen und medialen Öffentlichkeiten zu tun: Das Thema rassistische Gewalt war in den 1980er Jahren in der Bundesrepublik wenig präsent. Zum Selbstverständnis der historischen Zunft sollte es freilich gehören, ein solches mangelndes zeitgenössisches Problembewusstsein nicht zum Anlass zu nehmen, gesellschaftliche Phänomene aus der Analyse auszublenden, zumal wir Zugriff auf eine Vielzahl an Quellen haben, die uns Auskunft geben können. Hier könnten Ansätze aus der historischen NS-Forschung von großem Vorteil sein, zum Beispiel Methoden der Oral History oder ein alltags- oder lokalgeschichtlicher Ansatz. Eben weil es keine offiziellen Statistiken, keine Chronologien und keine kontinuierliche überregionale Berichterstattung gibt, wäre es jetzt an der Zeit, in Landes- und Stadtarchiven, bei Amts- und Landgerichten sowie in Nachlässen und Sammlungen zivilgesellschaftlicher Organisationen nach Egodokumenten von Betroffenen, Meldungen, Ereignissen, Berichten oder Gerichtsverfahren zu suchen, die etwa unter Schlagwort „Ausländerfeindlichkeit“ firmieren.[12]
Dies führt zu einem weiteren Defizit: Das große Potenzial von Zeitzeugen, deren Erfahrungen mit Hilfe der Methoden der Oral History sichtbar gemacht werden können, ist in dem hier besprochenen Themenfeld bislang fast gänzlich ungenutzt geblieben.[13] Die Betroffenen von Rassismus und die Überlebenden rassistischer Gewalt aus den 1980er Jahren nach ihren subjektiven Erfahrungen und Lebensgeschichten zu befragen, könnte ein zentraler Baustein in der Aufarbeitung der bundesdeutschen Rassismus-Geschichte darstellen und die Dimension rassistischer Gewalt in der alten Bundesrepublik fass- und begreifbar machen. Kenntnisse der Sprachen jener Länder, aus denen Menschen in die Bundesrepublik einwanderten, wären nicht nur für Oral History-Projekte unersetzlich: Rassistische Taten gegen Türkinnen und Türken in Westdeutschland wurden beispielsweise häufig von einer Medienberichterstattung in der Türkei begleitet, deren Analyse nur mittels türkischer Sprachkenntnisse möglich wäre.
An diesem Beispiel zeigt sich eine institutionelle Schieflage. Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker of Color, die zur Geschichte der Bundesrepublik forschen, sind chronisch unterrepräsentiert, was den Blick auf „die defizitäre Repräsentation der gesellschaftlichen Diversität in ihrer ganzen Breite“ an deutschen Hochschulen lenkt, wie es der Politikwissenschaftler Kien Nghi Ha formuliert, mit folgenreichen Konsequenzen: „Universitäten produzieren und verhandeln gesellschaftlich anerkanntes Wissen“. Der von ihm festgestellte „Ausschluss von gesellschaftlich diskriminierten Gruppen aus der Wissensproduktion“[14] fördert insofern ein defizitäres Wissen über zentrale gesellschaftliche Vorgänge wie Rassismus. Strukturelle Ungleichheiten und mangelnde Repräsentation an Hochschulen sind eng mit den Lücken im akademischen Wissen verflochten. Über diese Verflechtung wird selten öffentlich gesprochen und sie wird auch kaum sichtbar gemacht, denn die Repräsentation von People of Color an deutschen Hochschulen wird nicht systematisch in verlässlichen Statistiken erhoben.[15] Wer also schreibt die Geschichte rassistischer Gewalt? Wer kann sie überhaupt schreiben, da er oder sie über die notwendigen Ressourcen verfügt, über das entsprechende Wissen, sich in der Forschungsförderungslandschaft zurecht zu finden und erfolgreich Mittel zu beantragen, sprich über eine ausreichende institutionelle und finanzielle Absicherung?
Last but not least: Neue Perspektiven auf die bundesdeutsche Zeitgeschichte lassen auch Akteure hör- und sichtbar werden, deren Betrachtungswinkel bislang verborgen geblieben sind. Ich denke hier vor allem an die Perspektiven von Betroffenen und den Fragen nach Widerspruch und Widerstand gegen rassistische Gewalt, nach Selbstorganisation und Selbstermächtigung. Wer hat sich wann und wie der rassistischen Gewalt entgegengestellt, wer fordert das Gedenken an die Taten ein?[16] Wir wissen von den antirassistischen Demonstrationen, die Familienangehörige, Solidarische, Freundinnen und Freunde der vom NSU Ermordeten 2006 in Dortmund und Kassel organisierten – über fünf Jahre, bevor die Existenz des NSU in der Öffentlichkeit bekannt wurde.[17] Doch die Geschichte des Selbstschutzes, des Sich-Gehör-Verschaffens und der Selbstbehauptung von People of Color in der Bundesrepublik – die freilich viel mehr umfasst als die Geschichte ihrer Diskriminierung und den Umgang damit – ist viel länger und ihre Perspektiven sollten in der dringend zu schreibenden Geschichte rassistischer Gewalt nicht fehlen.
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