»Werde ich zu einem anderen Menschen, wenn ich eine andere Sprache spreche? Sieht ein Seepferdchen anders aus, wenn es nicht mehr ›tatsu-no-otoshigo‹ (das verlorene Kind des Drachen) heißt, sondern das kleine Pferd aus der See?«
– Yoko Tawada
Man muss nicht Gregor Samsa oder Daphne heißen, um sich in einen Käfer oder in einen Baum verwandeln zu können. Schon eine Tasse Tee verändert unseren Körper: Flüssigkeit befeuchtet den ausgetrockneten Hals und macht aus einer heiseren Krähe eine Nachtigall. Der Tee kann einen Menschen belebend beruhigen und aus einer rastlosen Arbeitsbiene einen ruhigen Koalabären machen. Was man zu sich nimmt, ist immer ein Anlass für eine Verwandlung. Nachdem Adam einen Apfel gegessen hat, ist er nicht mehr derselbe unschuldige Mann wie zuvor. Noch stärker als Getränke und Nahrungsmittel kann ein Medikament unser Gemüt und Gesicht verformen. Noch nie war die Menschheit mit so vielen Arzneimitteln und Drogen konfrontiert. Aber auch ein Gedicht, das wir lesen, kann uns körperlich und psychisch verändern. Nach einer Lektüre sind unsere Gedanken und Gefühle andere als zuvor, und oft sieht man das sogar am Gesicht. Ein Mann ist nicht immer männlich, ein Europäer nicht immer europäisch und ein Mensch nicht immer zweibeinig. Literatur schützt ihre Leser vor verführerisch-vereinfachenden, fremdenfeindlichen Identitätsangeboten. Wer mit der Sprache der Poesie lebt, ist in der Welt der Metamorphosen zuhause und welche ‚Heimat’ kann sicherer sein als die Literatur?
– Yoko Tawada