Wie wir heute Platon verstehen, hängt ganz stark von seinem berühmtesten Schüler ab, von Aristoteles. Anders ausgedrückt: In Platons überlieferter Philosophie steckt vor allem ganz viel Aristoteles, der beispielsweise die Ideenlehre seines Lehrer so ausgelegt hat, wie es am besten zu seinem eigenen philosophischen Ansatz passte. Und das hat nach Ansicht des Philosophen Dr. Christoph Quarch gravierende Folgen für die Platonrezeption der vergangenen Jahrhunderte. Die Philosophie Platons unterhalb der aristotelischen Überlieferungspatina freizulegen, ist der Anspruch Christoph Quarchs in seinem aktuellen Buch. Denn ist Platon erst einmal in seiner Ursprünglichkeit verstanden, kann er uns heute auf viele Fragen neue Antworten gegen. Wie das zu verstehen ist, dazu haben wir Dr. Quarch unsere Fragen gestellt.
"Platon ist so etwas wie die Abendröte der mythischen Welt"
L.I.S.A.: Herr Dr. Quarch, Sie haben zuletzt ein Buch über Platon veröffentlicht – „Platon und die Folgen“, so der genaue Titel. Bevor wir zu den Folgen kommen, warum haben Sie sich mit dem berühmten griechischen Philosophen beschäftigt, über den schon so viel geschrieben wurde?
Dr. Quarch: Wie so oft gibt es dabei persönliche und sachliche Gründe. Ich habe Platon bereits als junger Mann entdeckt, als mir eine Ausgabe von „Platons Meisterdialogen“ im Bücherschrank meines Vaters in die Hand fiel. Ich blätterte darin und fühlte mich sofort angesprochen. Auch wenn ich wenig verstanden. Ich habe dann später Griechisch gelernt und Philosophie studiert und bin immer wieder bei Platon gelandet – zuletzt bei meiner Promotion über „Platons Metaphysik der Lebendigkeit.“ Bei der Arbeit daran wurde mir klar, wie viel Platon der Welt von heute zu sagen hat – und seither werde ich nicht müde, durch die Lande zu ziehen und sein Denken für meine Zeitgenossen in aller Welt zu aktualisieren.
L.I.S.A.: Welche Ausgangsüberlegung ging dem Buch voraus?
Dr. Quarch: Ich finde bei Platon ein Denken, das auf signifikante Weise anders ist als die geistige Matrix der Gegenwart und im Prinzip der ganzen abendländischen Philosophie nach ihm. Das hat damit zu tun, dass seine Schaffenszeit in eine Epochenschwelle fällt: Platon ist so etwas wie die Abendröte der mythischen Welt. Ich verstehe seine Philosophie als das Projekt, die Weisheit des 7., 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. in die neue Sprache des Logos zu übersetzen. Diese alte, aus der mythischen Religion der alten Griechen herrührende Weisheit deutet das Sein der Welt als ein lebendiges Geschehen nach Maßgabe des Wachsens und Welkens der vegetativen Welt: als physis. Die Neuzeit denkt das Sein der Welt nach Maßgabe dessen, was auf Griechisch téchnē heißt, als ein Her- oder Festgestellt-Sein. Dieser letztgenannten geistigen Matrix verdanken wir unsere neuzeitliche Wissenschaft, Technik und Ökonomie – aber auch den Klimawandel und gravierende soziale Verwerfungen.