L.I.S.A.: Heute streiten sich Griechenland und Mazedonien um den Anspruch auf das historische Erbe der antiken Makedonen um Philipp II. und Alexander sowie der mit ihnen verbundenen Symbolik, wie beispielsweise den Stern von Vergina. Wie beurteilen Sie diesen Streit als Historiker? Warum können historische Persönlichkeiten, die vor mehr als 2.400 Jahre gelebt haben, heute noch die Gemüter derart erhitzen?
Dr. Fündling: Da muss ich weiter ausholen, um der Komplexität annähernd gerecht zu werden. So fern von unserer eigenen Erfahrungswelt, wie wir uns gern einreden, ist ein solcher Streit beileibe nicht. Noch heute hören wir ab und zu Stimmen, die aus der Varusschlacht 9 n.Chr. die Geburt eines deutschen Nationalgefühls machen wollen. Vielerorts ist antike Geschichte fester Teil heutiger Probleme und Krisen: Im Nahostkonflikt provoziert „Palästina“ als geographische Bezeichnung israelische Ohren, weil es sich dabei ursprünglich um eine Umbenennung der Provinz Judäa durch Kaiser Hadrian nach 135 handelt, als Strafe nach mehreren verlustreichen Aufständen. Womit der Begriff Vernichtungsängste weckt. Die Gedächtnisforschung spricht sehr anschaulich von „heißen“ und „kalten“ Formen, mit historischer Erinnerung generell umzugehen. Geschichte wird mit den Augen, aus dem Blickwinkel und weithin auch zur Selbsterklärung der eigenen Gegenwart geschrieben und gelesen – manche Zeiten und Phänomene lassen einen relativ kalt, auf andere berufen wir uns intensiv und definieren uns über sie, und auch die emotionale Heftigkeit dieses Vorgangs schwankt stark. So gesehen ist Gelassenheit gegenüber weiten Teilen der historischen Erinnerung gar nicht selbstverständlich. In Deutschland, wo die gedächtnisprägende Bezugsepoche schlechthin sich auf gerade zwölf Jahre verdichtet und noch dazu in einem abschreckenden Beispiel besteht, nicht etwa in „großen Momenten“, wo unsere euphemistisch gern „jüngste Vergangenheit“ genannte Schlüsselepoche praktisch als Bruchlinie zu den älteren Vergangenheiten wirkt, liegt der Fall äußerst speziell. Diese Gewichtung kann uns gegenüber Geschichtsmodellen anderer Gesellschaften und Zeiten zur Ratlosigkeit, schlimmstenfalls sogar zur Arroganz verführen: so, als wäre mit der bleibenden, nachdrücklichen Absage an die NS-Zeit (einen Tiefpunkt unter anderem auch des Geschichtsmisssbrauchs) schon jede Möglichkeit überwunden, selektiv oder problematisch mit Geschichte überhaupt umzugehen... und wäre es nur, weil es sich bei der restlichen Vergangenheit um harmlosen „alten Kram“ handelte. Im Streit um den Namen „Makedonien“ wie um das „Urheberrecht“ an dessen antiken Trägern und Symbolen haben wir es mit einem Phänomen der Moderne zu tun: mit den Mechanismen zur Legitimation von Nationalstaaten, mit der Konstruktion eines Staatsvolks als die Zeit überdauernde Einheit, mit dem Einfordern und Verweigern von Minderheitenrechten. Insofern begebe ich mich als Althistoriker da auf ein anderes Fachgebiet. Wie auch sonst in Europa gibt es in der Region keinerlei „natürliche“ Verbindung zwischen den politischen Außengrenzen und den kulturellen, ethnischen und religiösen Gegebenheiten, gibt es keine geschlossenen, homogenen, fraglosen Einheiten der historischen Entwicklung. Das Bedürfnis, mindestens den heutigen Zustand – eingetreten nach mehreren Wellen von Kriegen und Vertreibungen im Lauf weniger Generationen – als innerlich folgerichtig zu erklären und dadurch zu einer festen Größe zu erheben, ist beiderseits unausweichlich; die Angst, zum Opfer künftiger Grenzverschiebungen oder Zerfallsprozesse zu werden, ist es auch. Griechenland hat sein makedonisches Erbe vorwiegend in traumatischen Situationen wiederentdeckt, zuletzt besonders intensiv nach dem Ende der nationalistischen Militärdiktatur, als die Königsgräber von Vergina sehr gezielt zum Garanten einer im Wesentlichen unversehrten, nicht korrumpierten Identität überhöht wurden. Nur lagen diese Gräber bis 1912 noch auf türkischem Gebiet, waren im Jahr zwischen den beiden Balkankriegen bulgarisch und die griechische Region Makedonien ist stark durch Nachkommen der 1922 aus Kleinasien vertriebenen Pontos-Griechen geprägt! Vergina und die makedonische Tradition jetzt ideell „teilen“ zu sollen lässt griechischerseits alte Ohnmachtserfahrungen und Gefühle der Demütigung aufbrechen. Mazedonien, ein Staat, der sozusagen gerade erst geboren ist, wird umgekehrt schon durch seinen Namen auf ein Mittel verwiesen, seine Existenz als zwangsläufig und historisch gerechtfertigt hinzustellen, weil es sonst fürchten muss, zu einem Zufallsprodukt des jugoslawischen Zerfalls erklärt zu werden und schlimmstenfalls in einer „Heimholung“ seiner starken ethnischen Minderheiten durch Nachbarstaaten unterzugehen, die teilweise lautstark an seinem Existenzrecht zweifeln. Sogar über den Anspruch der Mazedonier, als eigenständige ethnische Gruppe zu gelten, wird regelmäßig gestritten; die Angst, zwischen Albanien, Griechenland, Bulgarien und Serbien zerrieben zu werden, ist offensichtlich. Daraus ergeben sich in beiden Ländern konkurrierende Ansprüche, die makedonische Identität fortzuführen, die nur eins verbindet: die Überzeugung, dass diese Identität kein gemeinsamer Besitz beiderseits der Grenze sein könne, und eine Angst für den Fall, dass sie einem abgesprochen wird. Wer Makedonien für sich reklamiert, scheint es dem anderen wegzunehmen, zumindest ideell und vielleicht auch in Form von Geistesansprüchen, und damit wird Geschichte zur Waffe. Das Bedürfnis nach Kontinuität hat – hier wie anderswo – zunächst einmal nichts mit den Gegebenheiten zu tun, es schafft bei Bedarf eigene Realitäten, was wir übrigens schon in antiken Abstammungslegenden sehen. Makedonien als antikes Königreich war zu keinem Zeitpunkt eine territorial oder ethnisch klar umrissene Größe, sondern wuchs oder schrumpfte mit den Möglichkeiten des jeweiligen Königs. Philipp selbst und seine unmittelbaren Vorfahren formulierten dann „uralte“ Gebietsansprüche und stellten sich als Nachkommen einer Adelsfamilie aus Argos hin, damit als zweifelsfreie Griechen; Philipp-Gegner wie Demosthenes erklärten „die“ Makedonen umgekehrt samt und sonders zu zweifelsfreien Barbaren. Schon das zeigt, wie mehrdeutig auch damals die Frage war, was einen „echten“ Griechen oder auch Makedonen ausmachte. Obendrein galten ganz andere Kriterien, worin „Abstammung“ bestand, als die Volks- und Kulturdefinitionen der Romantik und des Nationalismus – alle Beteiligten von damals hätten dementsprechend die Kontroverse in der Gegenwart schlicht nicht verstanden, geschweige denn Partei nehmen können. Nüchtern betrachtet haben heutige Einwohner der einstigen makedonischen Kronländer etwa soviel oder so wenig mit den „Ur“-Makedonen zu tun, wie ein Rheinländer „echter“ Germane, Kelte oder Gallorömer ist. In beiden Fällen gibt es weder eine direkte noch eine exklusive Fortsetzung der Politik, Gesellschaft und Kultur von damals in der Gegenwart. Der Schritt, den man sich wünscht, wäre natürlich die Einsicht, dass ein Bekenntnis zum gemeinsamen Kulturerbe spannungsabbauend wirkt, dass Teilen dieses Erbes verbindet und bereichert; wie wenig selbstverständlich eine solche Position ist und wie mühsam der Weg dahin, das vergessen wir zu oft.