Was der Balkan eigentlich ist, wo beziehungsweise ab wann er beginnt und was das Wort alles ausdrückt, ist eine lange, ungelöste Streitfrage, die weder hier noch anderswo gelöst werden kann. Balkan ist nämlich nur ein Begriff und keine erfahrbare Wirklichkeit. Ungleich einfacher ist es zu sagen, was der Balkan nicht ist: Amerika zum Beispiel, Deutschland oder ganz Westeuropa. Die Rede ist hier von denjenigen, die zu wissen glauben, was der Balkan ist, und was sie sich darunter vorstellen.
Wir Westeuropäer stellen uns darunter im Allgemeinen etwas Geheimnisvolles, manchmal Trauriges, manchmal aber auch Lustiges, ganz bestimmt etwas Unbestimmtes vor. Balkan war schon immer eine ausgesprochene Mittelerde: von seiner Kultur, irgendetwas zwischen mediterran, mitteleuropäisch und mittelöstlich, wusste und weiß man nicht, wem genau es gehört. Heute wie gestern ist der Traditionalismus (oft euphimistisch für Rückständigkeit) das, was uns am meisten anziehen mag, aber zugleich auch der Grund, der viele, vor allem junge, weltläufige Balkaner von ihrer Heimat abstößt. Missversteht mich nicht: Es ist sehr erfreulich, dass viele Balkaner in deutschsprachige Länder kommen, noch erfreulicher, dass wir Deutschsprachige uns für sie so zahlreich interessieren. Ersteres ist schon verständlich, wieso aber eigentlich zweiteres? Das Bild des Balkans ist wieder populär beziehungsweise aufgefrischt worden.
Natürlich hat die westliche Vorstellung vom Balkan eine lange, jahrhundertealte Geschichte: diese wird in einem amerikanischer Buch einer bulgarischen Forscherin1) vom Jahre 1999 - Die Erfindung des Balkans - beispielhaft erläutert. Es steht in der Tradition von Edward Saids Klassiker Orientalismus2). Ihr kann man freilich nicht das vorwerfen, wessen sich viele Wissenschaftler jenseits des Ozeans oft schuldig machen: sehr viel Abstand, aber keine Ahnung vom eigentlichen Objekt zu haben. Beide Schriftsteller konnten aber damals nicht ahnen, in welcher Weise und in welchem Maß sich der Balkanismus und der Orientalismus in der abendländischen Kultur post-'00 weiterentwickeln würde. Auf jeden Fall sind seither alle Südosteuropastudierenden und Balkanfanatiker in ihren Überlegungen zu der Frage verpflichtet: Kennen/Lieben wir wirklich dieses Gebiet oder sind wir Opfer, beziehungsweise Täter von Balkanismen/Orientalismen? Wieso entsteht aber der Bedarf nach solchen Überlegungen und nach einem solchen Buch, das sich nicht mit dem tatsächlichen Südosteuropa befasst, sondern mit dem Begriff Balkan, erst so spät, nämlich genau Ende der 1990er Jahre? Wir befanden uns im Jahrzehnt 1991–2001, mit seinen Kriegen, die Jugoslawien zerstückelten und das ganze umliegende Gebiet zum Schwanken brachten. Kriegsprofiteure und korrupte Politiker bestimmten das innere Bild der Balkanstaaten, Regisseure und Musiker das äußere. Musik und Filme waren dort eine Ausflucht vor dem alltäglichen, immer näher kommenden Grauen: eine indirekte Art der Beschäftigung mit jenem konfliktgeladenen Balkan, also mit Jugoslawien, um der verwirrenden, oft parteiischen westlichen Information ausweichen zu dürfen. Balkankriege nannte man sie - vor allem im englischen Sprachgebrauch. Erste Unschärfe: Jugoslawienkriege wäre eine angebrachtere Bezeichnung gewesen. Waren die Balkankriege nämlich etwa nicht jene am Anfang letzten Jahrhunderts, die alle Länder der Halbinsel im Krieg gegen die zum Rückzug blasenden Türken miteinbezogen? Dabei war es unwichtig, ob Jugoslawien politisch und kulturell tatsächlich beispielhaft für den übrigen Balkan war – man musste den politisch nicht mehr korrekten Namen (Jugoslawien) ersetzen und den neuen Namen (Balkan) vom Ganzen auf einen Teil übertragen (Synekdoche). Interessanterweise war das aber die Erbsünde, durch die (Ex-)Jugoslawien mit dem Balkan gleichgesetzt wurde. Neuerdings hören und lesen wir das Wort Balkan immer öfter in positiv konnotierten Zusammenhängen und nicht mehr in Kriegsberichten: Musik und Kino prägen unsere Vorstellungen mit ihren Bildern von einem exzessiven, freiheitlichen Lebensstil – der positiven Anarchie. Ob dieses Bild tatsächlich der Wirklichkeit entspricht, sei dahingestellt, denn die Rede ist hier von einer medialen Popularisierung. Versuchen wir aber diese Erscheinung augenblicklich als einen positiven Kulturaustausch zu betrachten: Balkaner strömen noch immer in die westeuropäischen Staaten: auf der Suche nach einem höherem Lebensniveau und weg von der negativen Anarchie, während Westeuropäer zum ersten Mal in der Geschichte nicht aus wirtschaftspolitischem Interesse, sondern aus reinem existentiellen Vergnügen (manchmal auch „Tourismus“ genannt) auf dem Balkan auftauchen – auf der Suche nach der positiven Anarchie und weg von der langweiligen Selbstverständlichkeit des höheren Lebensniveaus.
Bei der Einwanderung aus Südosteuropa haben wir es heutzutage mit einer dritten Welle zu tun – grob ausgedrückt: nach den Gastarbeitern und den Flüchtlingen, kommen heute massiv Studenten, Forscher und Wissenschaftler sowie Experten in die deutschsprachigen Länder, also jene „klugen Leute“, die oft bereits im Ausland waren oder ausgebildet wurden, aber keine ruhige Lebensgrundlage in ihrem Herkunftsland finden, sei es auf Grund von hoher Arbeitslosigkeit, mangelnden sozialer Leistungen oder auf Grund von sozialen Spannungen bzw. Spaltungen. Dieses grob geschnittene Bild beschreibt in den Grundzügen viele Balkanländer, aber vor allem die Länder des ehemaligen Jugoslawiens, vor allem aber eines: die immer noch umkämpfte "Mittelerde": Bosnien und Herzegowina. Von mindestens drei Kriegen im letzten Jahrhundert geplagt, wird Bosnien-Herzegowina häufig als „verfluchtes Land“ bezeichnet. Bemerkenswert ist daran zunächst, dass beide Schöpfer der weltweiten Popularisierung des Balkans, Emir Kusturica und Goran Bregović, aus der Hauptstadt Sarajevo kommen, dass beide nach einer außerordentlichen menschlichen und künstlerischen Laufbahn während des Kriegs aus ihrer Heimatstadt geflüchtet sind.
In diesem Unglück haben sie ihr Glück gefunden. Durch die Filme „Underground“ und „Schwarze Katze, Weißer Kater“ und deren Musik haben sie ein bestimmtes Bild des Balkans verewigt und die Welt auf mehrere Traditionen Südosteuropas aufmerksam gemacht. Welche? Vor allem die der Sinti und Roma, die heute nur nur noch begrenzt in Bosnien und erst recht selten in Sarajevo auftauchen. Selbst sie sind vor dieser beispiellosen Armut geflohen - scherzt man. Doch sie leben nach wie vor am Rande der Gesellschaft und werden höchstwahrscheinlich in kurzer Frist nicht integriert werden. Wenn sie schon in ihren Herkunftsgesellschaften nicht integrierbar sind, was hinderte dann daran, sie zu Weltstars zu machen? Das geschah am effektivsten mit den späteren Filmen Kusturicas und der späteren Musik Bregovićs. Und so haben sie es geschafft: Als Gegenbewegung sowohl zur musikalischen (Rock) und kinematografischen (Hollywood-Produktionen) Globalisierung als auch zur intellektuellen Avantgarde haben sie eine neue Kunstgattung erfunden, die das Bild des Balkans vom Balkan selbst loslöste: einen Realismus, besser gesagt einen Neuprimitivismus, der den "normalen Balkanmenschen" und den "typischsten" von allen, den Sinti und Roma, mit seinen natürlichen Gaben (Sorglosigkeit, Musikalität) und seinen lustigen Gewohnheiten auf die Bühne brachte. In diesem Vorhaben waren Kusturica und Bregović erfolgreich, weil vollkommen postmodern: inmitten der Identitätskrise Jugoslawiens - ebenso wie alle anderen unfähig, mit dem Hass, dem brudermörderischen Übel des Balkans umzugehen - haben sie sich künstlerisch einer Identität bedient, die nämlich der Sinti und Roma, die dem Bild des „Edlen Wilden“ entspricht und dem Westen als „balkanisch“ angeboten werden konnte.
In diesem Sinn war die Popularisierung der jugoslawischen Kultur eine "Ziganisierung", wie viele Kritiker tönen. Das war aber nichts Schlechtes an sich, sondern eine einzigartige Gelegenheit für viele Menschen auf der ganzen Welt, nicht nur das wahre Südosteuropa zu entdecken, sondern sich außerhalb des unterdrückenden Rahmens der one world culture auszudrücken. Die neuen, begeisterten Epigonen des Duos aus Sarajevo, seien es der russische Musiker, der einen elektronischen čoček spielt oder der deutsche-türkische Regisseur, der einen burlesken Road Movie in den Schluchten und Feldern des Balkans dreht, sind sogar zweifach postmodern, denn sie bedienen sich einer festgelegten neuprimitiven Kunstgattung, die bereits internationalisiert ist und mit ihren Herkunftsländern kaum noch etwas zu tun hat.
Seitdem ist der Balkan wörtlich in aller Munde und zum ersten Mal wieder in Südosteuropa angekommen: Lieder entstehen, die das "Balkanischsein" besingen; man benennt danach Lokale, Unternehmen, Kaufprodukte von Wien bis Istanbul und darüber hinaus. Das Wort hat seinen negativen, (anti)kulturellen Ruf verloren, sogar eine Balkan University wird gegründet. Der Mann von der Straße in Thessaloniki, Bukarest, ja sogar in Zagreb und Maribor, bekennt sich trotz aller balkanfeindlichen Staatsideologie oft offen zu einem Was-auch-immer-Balkan. Zum ersten Mal sind sich außerdem eine Handvoll Staaten - Serbien, Montenegro, Bosnien, Kosovo, Albanien, Makedonien und Bulgarien - darin einig, dass sie zu einer ähnlichen, gemeinsamen Dachkultur gehören. Allerdings haben die Sinti und Roma, die zusammen mit den Jugoslawen und den Wlachen das eigentliche heimatlose Volk Südosteuropas bilden, bislang keinen gesellschaftlichen Aufstieg irgendwo in Südosteuropa erfahren. Man fragt sich im Nachhinein, ob sie nicht sogar der Sündenbock waren, auf den alle negativen Vorurteile, das heißt Balkanismen, abgeladen werden, um den Balkan weltweit akzeptabel und sogar salonfähig zu machen?
"Positive Vorurteile" tauchen meistens dort auf, wo "negative Vorurteile" bereits vorhanden sind und umgekehrt, als eine Art Gegengewicht: heute ist der Balkan als Vorstellung wieder positiv besetzt - dank einer begünstigenden, aufklärerischen Zuschreibung durch den Westen, die besagt, balkanisch sei sympatisch und cool. Dies bewirkt, dass sich viele Balkaner wieder ohne Scham zu ihrer Herkunft bekennen.
Die Länder Ex-Jugoslawiens haben aber immer noch die größten Schwierigkeiten damit, ihre jeweils lokalen Seelen mit einer gemeinsamen Identität zu vereinbaren: obwohl oder eben weil diese "Stätlein" starke Identitäten zu haben scheinen, haben sie tiefste Identitätsprobleme. Es ist nämlich zwar möglich gewesen, über den Krieg neue Staatsgrenzen zu zeichnen, doch man vermochte dabei nicht, den Geist der Menschen in diese Grenzen einzupferchen.
„Balkanisierung“ hat man im Westen diesen Vorgang benannt, nach dem diese Staaten immer kleiner wurden sich immer erbitterter gegenüberstanden. Balkanisierung (bks. „balkanizacija“, nicht zu verwechseln mit „Balkanismus“) ist hier in Ex-Jugoslawien aber für die meisten kein politischer Begriff, sondern wird mit Ethnisierung bzw. "Ziganisierung" Südosteuropas gleichgesetzt - worüber man sich ärgert: „Wir sind stolz auf unser Balkanertum, aber nicht wenn Europa über uns lacht“. Ist das wirklich so? Und wäre der Balkan überhaupt wieder populär geworden, wenn es der Westen (Europa) nicht mal belächelt, mal bemitleidet hätte?
Dieser neue balkanische Stolz Ex-Jugoslawiens ist ein Ersatzprodukt für den nicht mehr politisch korrekten oder gar nützlichen staatssozialistischen Stolz - heute nur noch Ostalgie oder besser „Jugonostalgie“ genannt. Die Wörter sind aber wichtig und Balkan ist so ein Allzweckwort, das für alles Gute und Böse steht. Oft und gerne sagt man dort „balkanische Kultur“ statt „südslawische/jugoslawische Kultur“, oder „wir sind der Balkan“ statt „wir sind auf dem Balkan“, indem man Griechenland, Albanien und andere mit einem Schlag vom Club ausschließt und so aus einer grenzüberschreitenden Bezeichnung wieder eine nationale macht, die sich auf die Südslawen beschränkt. Die Gefahr eines neuen Nationalismus steht gleich um die Ecke. Es stimmt, wenn Jugoslawisch noch oder wieder eine Sprache wäre, wäre sie mit Abstand die verbreitetste auf dem Balkan. Das gleiche gälte für die Gebietsfläche des ehemaligen Jugoslawiens. Während die anderen Völker auf dem Balkan aber verhältnismäßig geringe oder gar keine Identitätsprobleme aufweisen – sie wissen, dass sie zum Balkan irgendwie gehören, aber sie fühlen sich nicht verpflichtet, dies zu behaupten –, ist Ex-Jugoslawien noch fern davon, die eigenen zu lösen. Und das wird auch nicht dadurch geschehen, indem man aus „Balkan“ beziehungsweise „balkanisch“ eine Eigenbezeichnung macht. Dazu muss man wissen, dass die Eigenart, alles um sich umher, ob stoffliche und unstoffliche Dinge, sich zu eigen zu machen, sehr balkanisch ist. Diese allgemeine Einstellung, diese Denkweise und diese Gewohnheit zur Selbstbemächtigung, die nicht einfach nur auf Nationalismus zurückgeführt werden kann, hat sogar die moderne Geschichte des Balkans bestimmt. Manchmal wird das sogar zu einer pathologischen Sucht, sich allem durch (Um-)benennungen zu bemächtigen.
Diesen Wahn zur Besitznahme und zur Selbstzuschreibung hat Adela Peeva in seinem bereits klassischen Dokumentarfilm Чия е тази песен? (Wessen ist dieses Lied?)3) thematisiert. Den gleichen Schluss wie sie kann man auch hierbeiziehen: je gemeinschaftlicher und nationsübergreifender ein Kulturgut ist, desto unsicherer ist seine Urheberschaft und desto erbitterter, aber oft unbegründeter, sind die Ansprüche darauf. Auf dem Balkan ist nichts open source, alles muss in Besitz sein, alles hat einen Preis. Und das ist keine schlechte Angewohnheit, die nur auf den von Kusturica verewigten „Edlen Wilden“, dem gewöhnlichen Straßenvolk, zutrifft.
Die heutigen jungen, weltläufigen Balkaner aus dem ehemaligen Jugoslawien träumen von oder kennen vielleicht Frankfurt und London, dafür haben sie aber kaum Sofia, Tirana, Edirne, Bukarest oder Thessaloniki besucht. Und das nicht, weil keine Autobahnen die angrenzenden Staaten vernetzen würden; das was hier fehlt sind die Verbindungswege zwischen den Köpfen der Balkaner selbst. Die jungen Balkaner, die sich in den deutschsprachigen Universitäten weiterbilden und Südosteuropastudien als Hauptfach wählen, tun das zwar um das eigene Land zu vertreten, was vollkommen verständlich und verdienstvoll ist, aber leider meistens auch nur um die Kultur und Sprache des eigenen Landes weiter zu vertiefen: Selten werden sie Experten für andere Balkanländer. Südosteuropa gehörte kulturell und wirtschaftlich schon immer zusammen und dann plötzlich nicht mehr. Heute darf es nicht die Gelegenheit verpassen, es wieder zu sein. Ex-Jugoslawien, im Sinne seiner neuen politischen und kulturellen Eliten, wird freilich der Führer dieser neuen Bewegung sein, aber darf es nicht allein sein, und vor allem darf es sich nicht leisten, seine Nachbarn zu ignorieren und die Nächstenliebe durch die Fernstenliebe eines Wie-auch-immer-gearteten-Westens zu ersetzen.
Damit niemand mehr um Mittelerde kämpfen muss.
1) Marija N Todorova, Die Erfindung des Balkans: Europas bequemes Vorurteil (Darmstadt: Primus-Verl., 1999).
2) Edward W Said, Orientalismus (Frankfurt am Main u.a.: Ullstein, 1981).
3) Чия Е Тази Песен? (2003), 2013 <https://www.youtube.com/watch?v=MLnB4_iygUg&feature=youtube_gdata_player> [accessed 11 April 2014].