Das a.r.t.e.s. forum ist die interdisziplinäre Jahrestagung der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem In- und Ausland einlädt, aus ihrer jeweiligen disziplinären Perspektive zum Tagungsthema Bezug zu nehmen. Das a.r.t.e.s. forum 2016 versammelte Beiträge zum Thema "text – language – media". Im Folgenden ist der Bericht von PD Dr. Charikleia Armoni zu ihrem Vortrag beim a.r.t.e.s. forum am 15. Juli 2016 zu finden.
Aus dem griechisch-römischen, byzantinischen und früharabischen Ägypten sind zu uns ca. 3.000 Privatbriefe in griechischer Sprache gekommen. Sie stammen aus der Zeit, in welcher in Ägypten zunächst die nach Eroberung des Landes durch Alexander den Großen etablierte griechisch-mazedonische Dynastie der Ptolemäer, dann (ab dem Jahr 31 v. Chr.) die Römer bzw. Byzantiner herrschten, aber auch aus dem ersten Jh. der arabischen Herrschaft, wo man noch Griechisch als Verkehrssprache verwendete. Die meisten dieser Privatbriefe sind auf Papyrus oder Tonscherben (Ostraka) geschrieben, andere Schreibmaterialien wie Pergament oder Holz wurden viel seltener verwendet. Es handelt sich um Texte des Alltags, die, wie Briefe von heute, aus dem Bedürfnis entstanden sind, mit einer anderen Person, die in aller Regel sich nicht am selben Ort befand, in Kontakt zu treten, Nachrichten, Bitten oder Anweisungen zu übermitteln oder Erkundigungen einzuholen.
Absender und Adressaten gehören nicht einer bestimmten sozialen Schicht. Denn obwohl die meiste Privatkorrespondenz sich erwatungsgemäß in den ‚gehobenen Kreisen‘ der Stadtbevölkerung, der Armee, der Grundbesitzer etc. abspielt, haben doch auch sog. ‚kleine Leute‘ wie Bauern oder Tagelöhner Briefe verschickt. Allerdings dürften solche Leute in aller Regel nicht mit eigener Hand geschrieben, sondern einem Schreibkundigen diktiert haben, der vermutlich auch den Text redigiert, vielleicht sogar ausformuliert hat. Ähnliches durfte auch für die Fälle gelten, in welchen Frauen oder Kinder als Absender vorkommen.
Antike Privatbriefe wurden nicht per Post verschickt. Der Absender musste auf Privatpersonen, Reisende, Händler zurückgreifen, die sich aus verschiedenen Gründen zwischen zwei Orten bewegten und auch als Briefträger fungierten.
Ich werde im Folgenden versuchen, einige Punkte anzusprechen, die mir für diese besondere Gattung griechischer Texte charakteristisch zu sein erscheinen. Ich werde mit einigen Beobachtungen zur Sprache solcher Texte beginnen und anschließend den Inhalt einiger Privatbriefe vorstellen in der Hoffnung, dadurch auch manche der Charakteristika dieses antiken Kommunikationsmediums aufzeigen zu können. Unter den uns aus Ägypten in der oben genannten Zeitspanne bekannten, in unterschiedlichen Sprachen geschriebenen Briefen (z. B. ägyptisch, lateinisch, arabisch), sind die griechischen Privatbriefe die umfangreichste Gruppe. Sie sind – wie griechische Papyrusurkunden im Allgemeinen – in der Koine genannten Form des Griechischen abgefasst. Unter diesem Begriff versteht man das nachklassische, über die ursprünglichen geographischen Grenzen des Griechentums gesprochene und geschriebene Griechisch. Wenn Sie wollen, handelt es sich um Griechisch als Weltsprache, für die erst Alexander der Große durch seine Eroberungen die Existenzbedingung geschaffen hat. Durch die Papyrusfunde können wir die Entwicklung dieser Sprache von ihren Anfängen her, vom Ende des 4. Jh.s v. Chr. bis zum Aussterben des Griechischen in Ägypten im 10. Jh. beobachten. So führen uns die Papyri über die zeitlichen Grenzen der Koine hinaus in das Mittel- oder byzantinische Griechisch hinein, an das sich dann das Neugriechische anschließt. In diesem Zeitabschnitt war Griechisch nicht nur die Amtssprache Ägyptens, also die Sprache, in der Texte juristischen und administrativen Inhalts in der Regel geschrieben wurden, sondern auch die Sprache, in der die Mehrheit der uns erhaltenen Alltagstexte anderen Inhalts abgefaßt worden sind.
Dass sich in dieser langen Periode von ca. 1300 Jahren die Sprache verändert hat, versteht sich von selbst. Diese Veränderung ist nicht ausschließlich auf die fortschreitende innere Entwicklung der griechischen Sprache zurückzuführen, sondern zum Teil auch durch von außen kommende Momente gefördert worden, z. B. das im Lauf der Jahre immer stärker werdende Eindringen lateinischer Elemente. Auf der Ebene der Lexik ist dieser Einfluß evident: Immer mehr lateinische Begriffe, ob diese sich auf alltägliche Gegenstände oder (vor allem seit der diokletianischer Ära) administrative Institutionen und Prozeduren beziehen, werden neben den griechischen Termini verwendet oder verdrängen sie. Auf der syntaktischen Ebene ist dagegen der Einfluß des Lateinischen nicht auf den ersten (mehrfach aber auch nicht auf den zweiten) Blick sichtbar. Wie das Lateinische auf das Griechische in dieser Hinsicht ausgewirkt hat, kann nach mühsamer Auseinandersetzung mit sprachlichen Strukturen festgestellt werden, die von der dem klassischem Muster folgenden Norm der griechischen Sprache abweichen.
Bei der Beurteilung der Diktion griechischer Urkunden gilt es vor Augen zu halten, dass diese nicht nur von bewußt getroffenen, der jeweiligen Kommunikationssituation angepaßten stilistischen Entscheidungen des Schreibenden, sondern u.a. auch von seinem sozialen Status bzw. Bildungsniveau sowie von seiner Nationalität bzw. seiner unmittelbaren kulturellen Umgebung abhing.
Es spielt z. B. eine große Rolle, ob der Griechisch-Schreibende einem hellenischen oder seit Generationen hellenisierten Umfeld entstammt oder nicht; oder ob er in den Fällen, in denen er ein griechischer Muttersprachler war, einer weiteren Sprache mächtig war: Diejenigen die etwa auch Ägyptisch oder Lateinisch konnten, würden leichter einen Ägyptizismus oder Latinismus anwenden.
Auch verrät die Diktion antiker Privatbriefe nicht unbedingt etwas über das Wesen derjenigen, die als Absender fungieren: Denn obwohl in den Briefen der „einfachen Leute“ kein konstruiertes, fiktionales Ich spricht, wie dies bei literarischen Briefen vielfach der Fall ist, sind sie oft nicht von eigener Hand und in den eigenen Worten verfaßt worden, sondern das Produkt eines schreibkundigen Bekannten oder eines Berufsschreibers.
Bei der Berücksichtigung solcher Faktoren, die subjektiver Natur sind, wird man nicht in erster Linie an Papyrusurkunden administrativen und juristischen Inhalts zu denken haben, die in unterschiedlichen Kanzleien Ägyptens aufgesetzt wurden. Solche Texte waren das Produkt von Berufsschreibern, beruhten auf einer je nach Zeit mehr oder minder einheitliche Erziehung und Tradition und weisen, was ihre Diktion und Vokabular angeht, eine hohe Standarisierung auf. Sie liefern ein wertvolles Zeugnis zum administrativen und juristischen Jargon ihrer Zeit ab. Wollen wir uns aber ein Bild von der griechischen Umgangsprache machen, so müssen wir uns eher Urkunden der privaten Sphäre zuwenden – allen voran den Privatbriefen.
Die bereits erwähnte zahlenmäßige Überlegenheit der in griechischer Sprache abgefaßten Privatbriefe gegenüber den in anderen Sprachen geschriebenen Texten dieses Inhalts aus Ägypten mag den Eindruck erwecken, dass das Griechische die Muttersprachen der verschiedenen im Land beheimateten Ethnien (allen voran das Ägyptische) allmählich verdrängt und sich nicht nur als Sprache der Gebildeten, sozial besser gestellten Schichten der Bevölkerung, sondern auch als Sprache der alltäglichen, privaten Kommunikation etabliert hatte. Manche unserer Texte lassen dennoch auf ein differenzierteres Bild schließen.
Zweisprachigkeit wird in einem aus dem 2. Jh. v. Chr. stammenden Brief einer Mutter an ihren Sohn thematisiert. „Als ich erfuhr“ schreibt sie „dass du Ägyptisch (Aiguptia grammata) lernst, freute ich mich für dich und für mich (sunecharen soi kai emaute), dass du jetzt doch in die Stadt kommst, bei [unsicher gelesener Name einer Person], dem Klystierspezialisten, die Lehrlinge unterrichten und einen Lebensunterhalt für das Alter haben wirst“. Bereits die Orthographie und die teilweise gewählte Ausdrucksweise des Briefes deuten darauf hin, dass Absenderin und Adressat einem seit längerem gräzisierten – wenn nicht griechischem – Milieu entstammen. Nun öffnet das Erlernen des Ägyptischen schöne berufliche Perspektiven für den Sohn. Der Ausdruck Aiguptia grammata verrät, dass dazu auch das Erlernen der seit dem 7. Jh. v. Chr. für den nichtreligiösen Bereich verwendeten demotischen Schrift gehörte. Man kann darüber spekulieren, welcher Art Unterricht der junge Mann im Haushalt des ägyptischen Arztes geben sollte. Von größerer Bedeutung ist der Umstand, dass nach über 100 Jahren griechischer Herrschaft in Ägypten für das berufliche Weiterkommen eines jungen Griechen von großem Vorteil sein könnte, die Sprache der Einheimischen in Wort und Schrift zu beherrschen.
Dies ist auch das Bild, das sich mithilfe anderer Zeugnisse aus der Ptolemäerzeit entwerfen lässt. Zwar scheint sich das Griechische, die Sprache der neuen Herrscher Ägyptens, bereits am Anfang der ptolemäischen Ära als Amtssprache etabliert zu haben; aber es hat das Ägyptische aus dem öffentlichen Leben nicht gänzlich verdrängt. Ganz im Gegenteil haben wir mehrere Anzeichen dafür, dass Zweisprachigkeit eine bedeutende Rolle spielte, z. B. im Rechts- und Verwaltungswesen. Aus dieser Zeit stammen auch mehrere in demotischer Schrift überlieferte literarische Texte und auch eine nicht geringe Anzahl von dokumentarischen Texten aus dem privaten Bereich, zu welchen auch Privatbriefe gehören.
Doch in spätptolemäischer Zeit scheint sich eine Entwicklung anzubahnen, die nach der Eroberung des Landes durch die Römer immer deutlicher wird: Der Kreis derjenigen, die des Demotischen mächtig sind, wird immer kleiner. Wohin diese Entwicklung geführt hatte, zeigt ein Privatbrief aus der Mitte des 2. Jh. n. Chr. sehr deutlich.
Bei P.Haun. II 14 handelt es sich um das Schreiben eines unverheirateten, möglicherweise jungen Mannes an seine Mutter und an seine Schwester. Obwohl es sich, wie mehrere Stellen des Schreibens nahelegen, um eine ägyptische Familie handelt, ist der Brief in Griechisch geschrieben; auch tragen Absender und Empfängerinnen griechische Namen. Er heißt Ptolemaios, seine Mutter Zosime, die Schwester Rhodus. Bemerkenswert sind die Zeilen, die am Anfang des Schreibens stehen und die der Verfasser an denjenigen richtet, der seinen Brief an die beiden Frauen übergeben soll. Er schreibt: „Bei Sarapis! Du, der den Brief liest, wer auch immer Du bist, gib Dir etwas Mühe und übersetze für die Frauen das, was in diesem Brief geschrieben steht, und sag es ihnen“.
Dass die beiden Frauen offenbar kein Griechisch lesen konnten, ist nicht überraschend. Ähnliches wird für die meisten Frauen in dieser Zeit gegolten haben. Nicht wirklich außergewöhnlich dürfte auch der Umstand sein, dass Zosime und Rhodus offenbar kein oder nur wenig Griechisch verstanden, obwohl sie, wie die Onomastik verrät, einer dem Griechentum nicht gänzlich fremdstehenden Familie entstammten; da Frauen in der Regel nicht oder viel weniger als Männer selbständig in einem öffentlichen Kontext agierten, werden sie sehr selten auf Griechisch kommuniziert haben müssen.
Wieso schreibt dann Ptolemaios den Brief (bzw. lässt ihn schreiben) nicht direkt auf Ägyptisch, die Sprache seiner Mutter und Schwester und sicherlich auch seine Muttersprache? Um es sehr generell zu formulieren: Wohl weil es zur Abfassungszeit des Briefes diese Option meistens nicht zur Verfügung stand. In den Jahrzehnten nach der Eroberung Ägyptens durch die Römer scheint die Anzahl der Menschen, die demotisch schreiben konnten, drastisch zurückgegangen zu sein; es hat den Anschein, als ob die demotische Schrift ausschließlich im Priester- bzw. Tempelmilieu Verwendung fand. Es ist z. B. bezeichnend, dass wir keinen einzigen demotischen dokumentarischen Text aus der Zeit nach Augustus besitzen, der nicht aus Tebtynis und Soknopaiu Nesos stammt, zwei Ortschaften, in denen sich große Tempeln des Krokodilgottes befanden. Man könnte vielleicht annehmen, dass bereits um die Mitte des 1. Jh.s n. Chr. und bis zur Etablierung der koptischen Schrift für viele oder für die meisten Ägypter eine einzige Option gab, einen Text schriftlich zu fixieren: Ihn auf griechisch zu schreiben bzw. schreiben zu lassen.
Kommen wir nun zum Inhalt der Privatbriefe: Die Grundstruktur der Papyrusbriefe unterliegt bestimmter Konventionen, vor allem was den Beginn und das Ende der Schreiben anbelangt: Um die wichtigste unter ihnen zu erwähnen: Mit Ausnahme der wenigen erhaltenen Briefe, die in feindlicher Absicht geschrieben wurden und mitunter sehr heftige Vorwürfe und Drohungen an den Adressaten enthalten, fangen und enden Privatbriefe in der gesamten Zeitspanne, die uns heute interessiert, mit einem Gruß. Der genaue Wortlaut richtet sich nicht nur nach den jeweils herrschenden epistolographischen Gepflogenheiten, sondern hängt auch vom Verhältnis der korrespondierenden ab. Z. B. besitzen wir vor allem aus vorchristlicher Zeit etliche Briefe, die mit einem schlichten „der soundso dem soundso Grüße“ beginnen. In anderen wiederum fällt der Anfangsgruß herzlicher aus: „der soundso dem soundso viele Grüße“, „der soundso seinem Herren und Bruder bzw. seiner Herrin und Schwester Grüße“, oder „der soundso seinem lieben Vater, Bruder etc. Grüße“ usw. Bei der Gestaltung des Schlussgrußes stehen viel weniger Varianten zur Verfügung: Die meisten Briefe enden mit einem „Gehab Dich wohl!“ oder „ich wünsche Dir Wohlergehen“. Vor allem in nachchristlicher Zeit pflegen die Absender auch weitere Personen grüßen zu lassen, wie etwa in diesem Brief (PSI XII 1242): „grüße die Mutter und Dionysios und Claudia und Serapus“.
Dabei beschränken sich die Verfasser für gewöhnlich auf die Erwähnung ausgewählter Personen aus dem engen Familienkreis des Adressaten. Manchmal gehen sie aber mit der Bestellung von Grüßen viel großzügiger um, wie z. B. in diesem Papyrus aus dem 4. Jh. n. Chr., in dem die entsprechende Partie 25 Zeilen in Anspruch nimmt: (P.Oxy. LVI 3859) „ich grüße meinen Herren und Bruder Eulogios und seine Frau und seine Tochter. Ich grüße meine Schwester Eukera. Ich grüße meinen Vater Psyros und seine Frau und seine Kinder. Ich grüße meinen Bruder Heron und seine Frau und seine Kinder [...] Ich grüße Epagathos und seine Frau und seine Tochter und seine Schwiegertochter usw.“
Was nun den eigentlichen Inhalt solcher Schreiben angeht, so überwiegt hier erwartungsgemäß der private und wirtschaftliche Bereich, bedingt durch die soziale Stellung der Autoren. Das Hauptanliegen ist in den meisten Fällen die Nachricht, dass man gesund sei, gepaart mit kleinen oder größeren Angelegenheiten des Alltags. Politische Ereignisse tauchen äußerst selten auf, oder nur dann, wenn sie unmittelbar auf das Leben des Schreibers einwirken. Ereignisse von welthistorischer Bedeutung finden im Gegenteil keine Erwähnung: Es gibt z. B. keinen Privatbrief, der die Eingliederung Ägyptens in das römische Reich oder die Eroberung des Landes durch die Araber auch nur mit einem Wort erwähnt.
Die wohl am häufigsten anzutreffende Mitteilung in Privatbriefen ist eine sehr prosaische: Es ist die Bitte um die Zusendung von Waren, die der Schreiber vor Ort nicht bekommen kann. Dass solche Wunschlisten mitunter ziemlich umfangreich waren und ausgefallene Wünsche enthalten konnten, zeigt dieser sprachlich äußerst interessante Brief aus dem 3. oder 2. Jh. v. Chr. Eine Tochter schreibt an ihren Vater, der sich auf Reisen befindet: (BGU VI 1300) „Du wirst richtig handeln, wenn Du besorgst: Zwei Webschiffchen, zwei mittelgroße Büchse und drei kleinere, zwei Schmuckkästchen, einen Schrank für Alabasterbüchsen [---], ein Salbenbüchsen mit Ringständer und einen Sikyonischen Pokal, Myrrhenbalsam, Öl für die Kleine für den Kopf [...] zwei Ringe, einen goldenen Spiegelschrank, mittelweiße Leinwand mit Porphyrstreifen [...] zwei Kämme, zwei Netzhauben, zwei scharlachrote Schuhe, zwei Haarspangen, Klappern für die Kleine und einen Stater Purpurfarbstoff vom Meer“.
Und wenn Sie vielleicht jetzt denken, dass es hauptsächlich Frauen oder verwöhnte Töchter gewesen waren, die derart hohe Ansprüche geltend machen konnten und ausführliche Einkaufslisten mit kosmetischem und modischem Schwerpunkt entsandten, lassen Sie uns diesen Brief aus dem 3. Jh. n. Chr. kurz anschauen. Schreiber ist hier ein junger Soldat der römischen Armee, der wohl im Lager in der Nähe der Hauptstadt Alexandria diente und Empfängerin seine Mutter. Er schreibt: „Schicke mir einen Mantel, einen Kapuzenmantel, ein paar Leinbinden, ein paar Lederröcke, Öl und die Pfanne, wie Du mir sagtest, und ein Paar Kopfkissen [...] Im übrigen also, Mutter, schicke mir das Monatsgeld recht bald [...] Und als mein Vater zu mir kam, gab er mir keinen Cent und keinen Kapuzenmantel, nichts! Aber alle lachen mich aus: ‚Sein Vater ist Soldat, hat ihm nichts gegeben!‘ Er sagte: ‚Wenn ich nach Hause komme, schicke ich dir alles‘; nichts habt ihr mir geschickt. Warum? Die Mutter des Valerius hat ihm ein paar Leibbinden geschickt, einen Krug Öl, einen Korb mit Fleischware und zweihundert Drachmen“ (BGU III 814).
Es mag vielleicht überraschen, dass Liebesbriefe in unserer Dokumentation praktisch nicht vorkommen: Unter den Tausenden bislang bekannt gewordenen Papyrusbriefen findet sich ein einziger Liebesbrief. Wahrscheinlich hängt dies mit dem Umstand zusammen, dass antike Privatbriefe keine gänzlich private Angelegenheit waren: Wie bereits gesagt, wurden sie nicht per Post, sondern durch Dritte zugestellt, die in den Fällen, wo der Adressat ein Analphabet war, – und dies wird z. B. bei Frauen meistens der Fall gewesen sein –, das Schreiben auch vorgelesen haben.
Der Umstand, dass das Briefgeheimnis nicht immer garantiert werden konnte, mag wohl auch zum Teil erklären, dass wir eine verhältnismäßig geringe Anzahl von Privatbriefen besitzen, in welchen Gefühle jeglicher Art dargelegt werden – einmal abgesehen von den mehr oder weniger als epistolographische Floskeln zu betrachtenden Eingangs- oder Schlusspartien der Briefe, von welchen wir bereits gesprochen haben; um so interessanter (in philologischer und mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht) sind für uns diejenigen Fälle, in welchen die Autoren Gefühl zeigen, auch wenn dies in aller Regel auf eine zurückhaltende, aber nicht minder ergreifende Art und Weise geschieht.
Unter den Briefen solchen Inhalts sind einige wenige Texte von besonderem Interesse, in welchen die Verfasser sich über Handlungen der Empfänger beschweren, die sie als unangenehm, gefährlich, beleidigend, schädlich o. ä. empfinden, und in mehr oder weniger emphatischer Weise (z. B. indem sie tadeln, ermahnen oder sogar drohen) versuchen, auf künftige Handlungen der Adressaten Einfluss zu nehmen. Diese letzteren sind meist Personen, die zum Familien- oder Freundeskreis der Schreiber gehören. Auch hier hält man sich für gewöhnlich mit drastischen Formulierungen zurück. Seltene Ausnahmen zu dieser Regel sind folgende zwei Privatbriefe aus römischer Zeit:
Der erste ist das Scheiben einer Mutter an ihren Sohn. Dem fragmentarischen Text können wir entnehmen, dass die Familie mit finanziellen und anderen Schwierigkeiten zu kämpfen hat; die Mutter musste ihren Wohnsitz verlassen und sich in der Fremde aufhalten; von den vier Kindern blieb bei ihr nur die jüngere Tochter. In Worten, die auch Söhnen und Töchtern von heute nicht fremd vorkommen dürften, beklagt die Absenderin ihre Hilflosigkeit und beschwert sich darüber, dass der Adressat sich nicht bei ihr meldet: „Deswegen habe ich Dich zehn Monate lang ausgetragen und drei Jahre lang gestillt, damit Du unfähig bist, mich mit einem Brief zu bedenken?“
Einen Einblick in gewisse Abgründe geschwisterlicher Beziehungen gewährt uns der nächste Brief aus der Mitte des 3. Jh.s n. Chr., den ein gewisser Zoilos an seinen älteren Bruder Diogenes sendet. Der Verfasser wirft dem Adressaten vor, dieser habe vor Jahren das elterliche Haus verlassen und sich seitdem nicht um die Eltern gekümmert; vor allem die Betreuung der Mutter würde jahrelang auf den Schultern des Jüngeren lasten. Der Autor erinnert sich daran, dass der ältere Bruder ihn früher oft verprügelt habe; damals habe er dieses schlechte Benehmen ertragen müssen, schreibt er, jetzt, wo er sechzehn Jahre alt geworden sei, wolle er es nicht länger tun. Bereits am Anfang des Briefes, der bezeichnenderweise keinen Gruß enthält, läßt Zoilos seinen Bruder Folgendes wissen: „Ich bin nicht von Sinnen, ich bin nicht unverschämt und ich bin keine Maus. Merke Dir, was ich Dir schreibe“ (P.Iand. VI 97).
Auch wenn wir, wie bereits gesagt, unter den Papyrusbriefen die Liebesbriefe vermissen, gibt es einige Exemplare mit Korrespondenz zwischen Ehegatten, in welchen zwar nicht die erotische Leidenschaft, doch aber die tiefe Zuneigung der Korrespondierenden spürbar wird. Unter diesen ist ein Brief, der am 17. Juni des Jahres 1. v. Chr. geschrieben wurde, der berühmteste. Ein Mann, der als Tagelöhner in der Großstadt Alexandrien arbeitet, schreibt an seine Frau, die sich zu Hause, im mittelägyptischen Oxyrrhynchos, bei dem Kind geblieben ist. Er schreibt: (P.Oxy. IV 744) „Ich bitte Dich und ermahne Dich, sorge für das Kind, und sobald wir Lohn bekommen, schicke ich ihn Dir hinauf“. Der Schreiber verzichtet auf den konventionellen Briefabschluß; anstelle der üblichen Grußformeln finden wir hier eine schlichte, aufrichtig wirkende Liebeserklärung. Der Absender bezieht sich auf eine Nachricht, die seine Frau an ihn übermittelt hatte: „[Du hast gesagt]“, schreibt er „‚vergiss mich nicht‘; wie kann ich Dich vergessen? Ich bitte Dich also ängstige Dich nicht“. Angesichts der innigen Beziehung, die der Mann zu seiner Frau aber anscheinend auch zu seinem Kind pflegt, ist der Inhalt der Zeilen 8 bis 10 des Briefes für den modernen Leser umso irritierender: „wenn Du vielleicht gebierst, belass es, wenn es männlich ist; wenn es weiblich ist, wirf es weg“.
Die in der Tat rüde Diktion (im Text steht „wirf es weg“ und nicht etwa „setze es aus“) wie auch die Aufforderung selbst, ein Neugeborenes auszusetzen, schockierte viele Interpreter dieses Textes; mehrfach wurde der Versuch unternommen, den Sinn der Zeilen anders zu verstehen, so dass die brüske Äußerung milder erscheint. Und doch scheinen die vollständig erhaltenen und gut lesbaren Zeilen nichts anderes zu bezeugen, als dass im Brief eines anscheinend fürsorglichen Ehemannes und Vaters kurz vor der Zeitwende die Anweisung an die Frau, ein weibliches Neugeborenes auszusetzen, sehr wohl ihren Platz finden konnte. Was die Mentalitätsgeschichte im hellenistischen und römischen Ägypten anbelangt, ist dieser Brief sehr aussagekräftig. Über den Charakter des Absenders dürfte allerdings die barsche Aufforderung an die Frau recht wenig verraten (und schon gar nicht, er sei „ein Taugenichts, dem alles einerlei sei“, wie einmal behauptet wurde): Hätte unser Absender, der als sein Glück in der Großstadt suchende Tagelöhner ein Analphabet gewesen sein dürfte, die Möglichkeit gehabt, den Brief selbst zu schreiben, hätte er sogar womöglich andere, weniger rüde Worte gefunden.