Wenn in Innenstädten Menschen, die auf der Straße leben müssen, von Vereinen für Obdachlosenhilfe oder Tafeln mit Essen und mehr versorgt werden müssen, dann ist das Problem Armut selbst in so reichen Gesellschaften wie beispielsweise Deutschlands und Frankreichs nach wie vor ungelöst. Im Gegenteil: Armut begegnet uns im öffentlichen Raum zunehmend. Dabei gehörte es zu einem der größten Versprechen des Wirtschaftswachstums nach 1945, Armut dauerhaft zu überwinden. Dementsprechend spielte dieses Thema in den westeuropäischen Kernländern lange keine bedeutende politische Rolle. Erst Anfang der 1970er Jahre kehrte es in die politischen Debatten und ins öffentliche Bewusstsein zurück. Die Historikerin und Romanistin Dr. Sarah Haßdenteufel hat diese Phase der bundesdeutschen und der französischen Geschichte entlang der Fragestellung untersucht, warum das Thema Armut zurückkehrte und unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen darüber wie debattiert wurde. Wir haben ihr zu ihrer vergleichenden Studie unsere Fragen gestellt.
"Dass man als Historikerin Armut erforscht, scheint viele noch zu überraschen"
L.I.S.A.: Frau Dr. Haßdenteufel, Sie haben sich im Rahmen Ihrer Promotion mit Debatten um Armut in Frankreich und in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis 1990 aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive beschäftigt. Bevor wir zu einigen Details Ihrer Arbeit kommen - was hat Sie zu diesem Thema geführt? Welche Vorüberlegungen gingen dem voraus?
Dr. Haßdenteufel: Das Thema Armut fand ich schon lange spannend, aber tatsächlich hätte ich lange nicht gedacht, dass es mal zu meinem Forschungsthema werden würde. Denn in der Geschichtswissenschaft ist die historische Armutsforschung noch nicht sehr etabliert – auch wenn gerade in den letzten zehn Jahren einige neue Studien dazu erschienen sind. Ich kann auch gar nicht mehr zählen, wie häufig ich, wenn ich mein Forschungsthema nannte, gefragt wurde, ob ich Soziologin oder Politikwissenschaftlerin sei. Dass man als Historikerin Armut erforscht, scheint viele noch zu überraschen. Aber an beiden Universitäten, an denen ich studiert habe (der Universität Trier und der Université Paris VII) gab es Forschungsprojekte und Lehrveranstaltungen zur historischen Armutsforschung, die es mir ermöglichten, mich auch im Rahmen meines Studiums und dann meiner Doktorarbeit mit dem Thema zu befassen. In diesen Projekten ging es vor allem um die Beschäftigung mit dem Phänomen der Armut selbst. Für meine Arbeit habe ich einen anderen Zugang gewählt: Ich wollte mich nicht mit der Armut an sich, sondern mit der Debatte um Armut befassen. Der Reiz dieses Zugangs besteht meiner Ansicht nach darin, dass die diskursive Verhandlung von Armut und Armutsbekämpfung sich immer auch als Debatte um gesellschaftliche Exklusion und Inklusion lesen lässt und auf diese Art Vorstellungen von Gesellschaftsordnungen offenlegen kann. Insofern ist das Sprechen über Armut viel mehr als das Sprechen über materielle Versorgung, sondern dabei wird auch verhandelt, ob und wie Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht werden soll.