Im Fußball steht eine Länderspielwoche an - morgen spielt Deutschland gegen Frankreich und am kommenden Dienstag gegen die Niederlande. Vor nicht allzulanger Zeit wäre in der medialen Vorberichterstattung hierzulande davon die Rede gewesen, dass organisierte Fußballarbeiter zuerst auf die Champagnerfußballer und danach auf die Brasilianer Europas treffen. Diese stereotypen Zuschreibungen haben sich inzwischen gewandelt, in einigen Fällen sogar ins Gegenteil verkehrt. So wird heute die Spielweise der deutschen Nationalmannschaft oft mit dem Prädikat "brasilianisch" versehen, wogegen die niederländische Auswahl, die sogenannte Elftal, sich bereits als Ansammlung von Rumpelfußballern bezeichnen lassen musste. Diese und andere Nationalstereotypen in der Fußballberichterstattung hat der Germanist Prof. Dr. Rolf Parr von der Universität Duisburg-Essen auf ihre diskursive Bedeutung hin analysiert und darüber einen Aufsatz veröffentlicht. Wir wollten von ihm wissen, wie solche nationalen Zuschreibungen entstehen und welche Diskurse über den Fußball hinaus dadurch befördert werden.
"Spieler und Mannschaften erscheinen als temporäre Träger allgemeiner Eigenschaften"
L.I.S.A.: Herr Professor Parr, Sie haben sich im Rahmen von Sport- und Diskursgeschichte mit Nationalstereotypen in der Fußballberichterstattung beschäftigt. Eine typische Floskel in der deutschen Berichterstattung über Fußball ist folgende: „Schön anzusehen, aber brotlose Kunst.“ Könnten Sie diese gern verwendete Wendung für uns dechiffrieren? Haben Sie noch einige weitere Nationalstereotype?
Prof. Parr: Das ist in der Tat eine der wiederkehrenden Phrasen in der Fußballberichterstattung, und zwar ebenso auf der Ebene des Nationenfußballs (insbesondere Europa- und Weltmeisterschaften) wie auch derjenigen der bundesdeutschen Ligen. Zugrunde liegt dieser Formulierung die Differenz von ‚schön spielen ohne Tore‘ und ‚effektiv spielen, aber nicht schön‘, wobei das eigentliche Ideal unter der Hand gleich mit konnotiert ist, nämlich beides miteinander zu verbinden, also ‚schön‘ und auch noch ‚erfolgreich‘ zu spielen. Auf der Ebene des Nationenfußballs galt in den späten 1990er Jahren und auch noch zu Beginn der 2000er Jahre das Spiel der deutschen Nationalmannschaft als wenig schön, dafür aber – was die Ergebnisse anging – als effektiv. Eine treffende Formulierung, die um 2000 verstärkt aufkam, war die Rede vom deutschen ‚Rumpelfußball‘: harte deutsche Wertarbeit, aber eben nicht schön. Den Gegenpol des ‚Schönspielens‘ verkörperte in den Zuschreibungen der Berichterstattung von Presse, Fernsehen und Radio vor allem die niederländische Nationalmannschaft. Ihr sagte man nach, dass sie – vor die Wahl gestellt – in dieser Zeit lieber schön gespielt als Tore geschossen hätte. Mit dem „Sommermärchen“ von 2006 konnte die deutsche Nationalmannschaft dann für einige Zeit beides zusammenbringen: das ‚schön anzuschauende‘, ‚frische‘ Spiel einer ‚jungen‘ Mannschaft, das auch noch zu effektiven Ergebnissen führte (zumindest bis kurz vor Ende des Turniers).
Aber man muss sich klar machen: All das sind Zuschreibungen von außen, die über die gerade spielende Mannschaft hinaus zu Eigenschaften der jeweils ganzen Nation generalisiert werden, sodass jeder einzelne Vertreter einer Nation auch als Vertreter der vermeintlich nationalen Eigenschaften angesehen wird. Die für den zugeschriebenen deutschen Nationalcharakter spezifischen Merkmale ‚Ordentlichkeit’ und ‚arbeitsamer Fleiß’ manifestieren sich dann ebenso in ‚ordentlichen’ Häusern und ‚ordentlich’ gewaschenen Samstagsautos wie eben auch in einem ‚ordentlich’ gespielten Fußball. Spieler und Mannschaften erscheinen – wie mein Wuppertaler Kollege Matías Martínez es einmal formuliert hat – als temporäre Träger allgemeiner Eigenschaften, die eine Nation anscheinend über längere Zeit hinweg ausmachen.
Solche Nationalstereotype gibt es in der Fußballberichterstattung zuhauf. Alle zwei Jahre werden sie bei den Europa- und Weltmeisterschaften neu aufgerufen, aktualisiert und auch durchaus modifiziert. Nehmen wir als Ausgangspunkt die WM 2002 in Korea und Japan (seitdem verfolge ich die Entwicklung), dann sah das System der Nationalstereotype aus deutscher (europäischer) Perspektive so aus, dass die Engländer als ‚eiskalte und knallharte, wenn auch in der Regel faire Direktfußballer’ galten; die Franzosen als eine Mannschaft mit ‚Spielwitz’ bei gleichzeitiger ‚Erfolgsorientiertheit’; die Italiener als so ‚abwehrversessen und taktikorientiert’, dass sie darüber sogar ihre eigentliche Aufgabe, nämlich das Tore schießen, vergaßen; Bulgaren und Rumänen als ‚schlampig’, dafür aber auch ‚hinterlistig’ wie alle Balkanfußballer; die Dänen als so lange völlig ‚relaxed’, bis sie zunächst ‚frech aufspielten’ und dann als ‚danish dynamite’ förmlich explodierten. Da sah es mit dem südamerikanischen Fußball schon anders aus, denn dessen Ball-‚Künstler’ ‚zauberten’ und tanzten ‚Samba’ (wie im Falle Brasiliens) oder ‚Tango’ (wie im Falle Argentiniens); Zentral-Afrikaner ‚tanzten’ zwar auch, aber ohne ‚Zauber’ und im Unterschied zu Südamerikanern eher ohne als mit Ball, sodass einer kollektiven körperlichen Steigerung (‚als Mannschaft mit dem Ball tanzen’) hier eine nur individuelle (‚als Einzelner ohne Ball an der Eckfahne Lambada tanzen’) gegenüberstand. Neu im Turnier waren als Nationen Japan und Südkorea, die als ‚fleißige, aber unkoordinierte Läufer’ und damit ‚leichte Gegner’ wahrgenommen wurden; die Koreaner galten als ‚opferbereit und leidensfähig’. Demgegenüber wiederum waren die biederen deutschen Kicker in der Positiv-Variante eher so etwas wie ‚ordentlich-gründliche Arbeiter am Ball’ (sogar so gründlich, dass sie gelegentlich gar nicht in die nächste Runde gehen wollten), und in der Negativ-Variante eher die schon erwähnten ‚Rumpelfüßler’.
Reaktionen auf den Beitrag
Kommentar
Bilden die Begriffe Fußball-Anhänger und Fußball-Fan ein semantisches Wortpaar?
"Fan" ist ja wohl die Kurzform von Fanatiker. Ob sich alle sogenannten Fans gerne in der Presseberichterstattung als Fanatiker eines Vereins oder einer Fußball-Nation beschrieben sehen würden, möchte ich sehr bezweifeln.
Interessanterweise war bisher noch nie die Rede oder Sprache von Fans oder Anhängern der nationalen oder internationalen Fußballverbände (DFB, UEFA, FIFA). Die Identifikation bezog sich immer auf eine Mannschaft.