Ein neuer Staat braucht Symbole, über die er seine Staatlichkeit ausdrücken kann. Nationalhymnen gehören dabei zum festen symbolischen Repertoire einer jeden Staatsgründung. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte sich die Frage nach der Hymne vor allem für die Nachfolgestaaten des untergegangenen sogenannten Dritten Reichs: für die Bundesrepublik Deutschland, die DDR und für die Bundesrepublik Österreich. Der Historiker Dr. Clemens Escher hat sich im Rahmen seines Dissertationsprojekts mit der Suche der Bundesdeutschen nach einer Nationalhymne beschäftigt und dabei die Vorschläge von Bürgern untersucht. Seine Ergebnisse bieten einen neuen und aufschlussreichen Zugang zum Gefühlshaushalt der Bonner Republik unmittelbar nach der Katastrophe des Nationalsozialismus. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"Die Bundesbürger griffen selbst zum Stift und in die Quetschkommode"
L.I.S.A.: Herr Dr. Escher, Sie haben ein Buch über die Entstehung der deutschen, genauer der bundesdeutschen, Nationalhymne nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben. Warum ein Buch zu einem Thema, das bereits erschöpfend erforscht zu sein scheint und über das entsprechend ausgiebig publiziert worden ist? Was ist an Ihrer Arbeit neu?
Dr. Escher: In der Tat, zur Nationalhymne gibt es bereits viel Literatur aus den unterschiedlichsten Fachrichtungen. Mein Augenmerk richtete sich aber auf die Zeitspanne, in der die Bundesrepublik eben keine Hymne besaß, also die Jahre 1949 bis 1952. In dieser hymnenlosen Zeit griffen die Bundesbürger selbst zum Stift und in die Quetschkommode, um Hymnen zu dichten und neue Deutschlandlieder zu komponieren. Adressaten waren zumeist Theodor Heuss und Konrad Adenauer. 2000 dieser Vorschläge sind überliefert und liegen u.a. in Koblenz im Bundearchiv. Die Einsendungen stehen dabei als Abbreviatur für die Frage nach der nationalen Identität der Deutschen. Bürgerbriefe werden als politische Selbstzeugnisse verstanden, die sich mit dem symbolischen Gehalt des Staatswesens beschäftigten. In der Arbeit werden gelungene und – mitunter noch interessanter – misslungene Kommunikationsstrategien geschildert. Sprachliche Übereinkünfte sollen ebenso dargestellt werden wie gegenläufige Diskurse. Vor allem aber soll durch die Briefe zu den Gefühlen der Bürger vorgedrungen werden. Diese lassen sich nur in Selbstzeugnissen aufspüren, die anfangs von der Kulturgeschichte der Politik (Thomas Mergel) und ihrer fast gleichaltrigen Schwester der Neuen Politikgeschichte (Ute Frevert) vernachlässigt worden sind.
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* FAZ (R. Blasius am 16.5.17, S.8.); http://www.faz.net/-gqc-8xv8i?GEPC=s3
* SZ (S. Speicher am 24.8.17, S. 14.); http://sz.de/1.3637338 (mit paywall)
* der FREITAG (E. Schütz als Sammelrezension am 27.7.17, S. 23.); https://t.co/6WasuwVRG4
Weitere digitale Besprechungen zum Buch, freilich nicht von Herrn Jan-Holger Kirsch betreut, finden sich hier:
* Axel Bernd Kunze: https://t.co/oQWM0Mz3jB
* Katholische Nachrichten-Agentur über: https://www.domradio.de/node/245864
* Welt: https://t.co/Jib8ZNBvLL
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