Vor 100 Jahren, genauer am 1. März 1915, widersetzte sich der Chefredakteur des "Berliner Tageblatts" Theodor Wolff der Militärzensur seines Landes. Er gehörte ohnehin nicht zu jenen Journalisten, die ihrer Regierung ergeben und kritiklos zur Seite stehen - nicht einmal als in Europa der bis dahin verheerendste Krieg der Geschichte tobte. Selbst in solchen Krisenzeiten wahrte Theodor Wolff Distanz und misstraute vermeintlichen Wahrheiten. Seine berufliche Auffassung ist heute angesichts eindeutiger journalistischer Parteinahmen zugunsten der jeweils nationalen Regierung nicht mehr selbstverständlich. Der Historiker Prof. Dr. Bernd Sösemann hat für die „Historische Kommission“ bei der „Bayerischen Akademie der Wissenschaften“ bereits 1984 die Tagebücher Theodor Wolffs zum Ersten Weltkrieg und zu den Anfängen der Weimarer Republik in zwei Bänden ediert, Wolffs journalistische und publizistische Werke, Artikel und Briefe in sechs Bänden veröffentlicht und eine Biographie des Chefredakteurs verfasst. Nun liegt auch eine Online-Plattform zu Theodor Wolff vor. Wir haben ihm unsere Fragen gestellt.
"Mit einem deutlichen Anflug von Skepsis, misstraut er ehernen Wahrheiten"
L.I.S.A.: Herr Professor Sösemann, Sie haben sich in Ihrer Forschungsarbeit intensiv mit dem Journalisten Theodor Wolff beschäftigt und unter anderem eine ausführliche, kommentierte wissenschaftliche Edition der Tagebücher herausgegeben. Können Sie in einigen Worten den Menschen und den Journalisten Theodor Wolff charakterisieren?
Prof. Sösemann: In Theodor Wolffs Leitartikeln finden sich attackierende Passagen oder den politischen Gegner bloßstellende Darstellung nie in verletzender und gar in ehrabschneidender Form. Er achtet auch darauf, dass ihm keine Anspielung zu langatmig und keine Andeutung zu breit gerät. Sein Witz verzichtet auf den letzten erläuternden Satz, seine Ironie auf das zusätzliche Ausrufezeichen. Neben ihren bitteren Varianten tritt die Ironie mit versöhnendem und entspannendem Gestus auf – leise, lächelnd und etwas versonnen, wie es in den an Anatole France oder Victor Auburtin erinnernden Texten geschieht. Dabei entsteht nicht der Eindruck des Spielerischen und des Unverbindlichen. Vor diesem Missverständnis bewahren den Leser der seriöse publizistische Kontext, der sachliche Untergrund des Artikels und die Ernsthaftigkeit der journalistischen Botschaft.
Gleichgültig in welcher Profession Wolff seinem Leser begegnet, als Journalist dem Aktuellen, den Stürmen der Straße ausgesetzt, oder als Schriftsteller hinter den schützenden Wänden der Bibliothek mit dem Anspruch schreibend, dem Wahren und der Wahrheit nachspüren zu wollen, immer teilt er sich seinem Publikum mit als genauer Beobachter und Aufklärer. Fern jeglicher Ideologie stehend, liberal, offen und mit einem deutlichen Anflug von Skepsis, misstraut er ehernen Wahrheiten und ihren Propheten. Die dabei beachtete Zurückhaltung und Skepsis wendet er auch gegen sich und die Zeitung. Der Advokat dürfe erst plädieren, wenn er seine Studien und Examina bewältigt habe, doch dem Journalisten werde beides nicht abverlangt. Über allen Feststellungen und Urteilen Wolffs schwebt ein selbstkritisches “Vielleicht”.
Seine gut recherchierten Ausführungen entstehen am Stehpult oder Schreibtisch. Sie verbinden aufs Engste den Bericht mit dem Kommentar, trennen die Darstellung nicht von der Wertung. Dieses Verfahren verwendet Wolff bewusst und politisch engagiert, doch jenseits von hemmender parteipolitischer Nähe und mit klarer Orientierung an liberalen Grundsätzen, die er keiner Fraktions- oder Parteizeitungsdisziplin zu opfern bereit ist. Er ist nie politisch ungebunden gewesen, aber weitgehend unabhängig; er fühlt sich allein der Öffentlichkeit verpflichtet. Die Militärs legten im Ersten Weltkrieg Wolff zwar einen monatelangen Schreibverzicht auf, konnten aber es aber gegen den politischen Protest im In- und Ausland nicht aufrechterhalten.